VOR 100 GENERATIONEN

EINLEITUNG


Als junger Mensch verwechselte ich die wissenschaftliche Entwicklung der Menschheit mit der intellektuellen Entwicklung des einzelnen Individuums. Ich brauchte gar keine 100 Generationen zurückzugehen, 100 Jahre genügten vollauf. Die Leute im 19. Jh. konnten ganz einfach nicht so klug gewesen sein, wie wir heute, sonst wären sie wohl nicht im Schein der Petroleumlampen gesessen und hätten sich die Augen verdorben - oder noch schlimmer, hätten vor der Dampfeisenbahn Angst gehabt...
Sogenannte Experten warnten ja vor der erschreckenden Geschwindigkeit, mit der die Züge durch die Gegend rasten, die mußte doch gesundheitsschädigend sein; und überhaupt mußte es ein Werk des Teufels sein, was da dampfte und stampfte und Feuerfunken aus dem Rauchfang fliegen ließ, wie in der wirklichen Hölle.

Mir war es ganz klar, daß die Leute von damals ein wenig beklopft gewesen sein mußten. Als Siebenjähriger fuhr ich jeden Morgen mit dem Zug zur Schule, und da war überhaupt nichts dabei. Und die 30 bis 40 Stundenkilometer, mit denen die Züge damals fahren konnten, die schaffte ich ja auf meinem Rad, als ich doppelt so alt war. (Naja, wenigstens bildete ich es mir damals ein.) Und das allein waren doch Beweise genug für den mentalen Zustand früherer Generationen.
Heute, da ich mich selbst der Reife eines halben Jahrhunderts nähere, habe ich eine Spur mehr Übersicht. Ich weiß nämlich aus eigener Erfahrung, daß ich auch vor meinem 25. Geburtstag nicht so viel dümmer war, nur weil ich damals noch keinen Fernseher hatte....
Und wenn ich mir heute das gotterbärmliche Theater anhören muß, das um die Gesundheitsschädigung von Seiten der Computer gemacht wird, und daß sie die Jugend verdummen, und daß sie die Arbeitsplätze wegnehmen, und, und, und - da muß man ja die Parallelen zur Dampflok einsehen. Es kann natürlich sein, daß dies ein Armutszeugnis für die Intellektualität der Menschheit im Allgemeinen ist, aber in dem Fall gilt das heute in gleichem Ausmaß wie vor 100 Jahren.
Aber das Wichtigste ist dennoch die Einsicht, daß nicht die Menschen sich verändert haben, sondern die Technologie.

Nun, gut, aber vor 100 Generationen? In dieser Zeit muß doch eine Entwicklung stattgefunden haben? Ich meine, die Leute von damals konnten doch weder schreiben noch lesen. Aber das Lesen ist ja auch eine Übungssache, und damals gab es nicht so viele Dinge, woran man sich üben konnte; möglicherweise die eine oder andere Inschrift auf einem Monument, oder bestenfalls auf einem Grabstein. Es gab ja keine Bücher im heutigen Sinn, oder sogar Zeitungen, also dürfen wir unseren Vorfahren auch hier keine Schuld zuschreiben.
Aber sonst! Die Ideen, daß das Wasser, oder die Luft oder das Feuer der Urstoff waren! Das ist doch so hirnverbrannt, daß man kaum darüber lachen kann. Also müssen sie schon ein wenig dümmer gewesen sein, als wir?

Mein Großvater - er war ein ganz gewöhnlicher Schlosser von Beruf - versuchte sich über längere Zeit an einem Perpetuum mobile, einer Ewigkeitsmaschine also. Das war damals ein Trend der Zeit, sogar Johann Strauss hat ja einen Walzer oder eine Polka, oder was auch immer, namens "perpetuum mobile" komponiert. (Vermutlich ist ja das "Mobile", das Kinderspielzeug, das von der Decke hängt, eine logische Folge der Versuche mit der Ewigkeitsmaschine.)
Es gelang aber meinem Großvater auch nicht, eine zu konstruieren. Er verstand damals noch nicht, daß die Energiemenge immer gleich bleibt, und daß man jeder Maschine Energie zuführen muß, um den Friktionsverlust auszugleichen. Das ist ein Thema, das heute jeder in der Schule lernt. (Damit aber nicht gesagt, daß es heute auch alle begreifen....) Das beste Modell meines Großvaters funktionierte vielleicht zwei Wochen lang, wahrscheinlich stand es im Freien, wo der Wind die Bewegungsenergie zuführen konnte.
Aber wenn auch aus seinem Perpetuum mobile nichts wurde, kam er auf eine andere, ähnliche Idee. Er behauptete, daß man eines Tages eine Armbanduhr erfinden würde, die man nicht aufzuziehen brauchte. (Zu der Zeit gab es auch keine Uhren mit Batterieantrieb, sondern man mußte die Uhr täglich mechanisch aufziehen.)
Er verstand also, daß die Bewegungsenergie des Armes ausreichen würde, um eine Uhr in Gang zu halten. (Leider hat er die Idee niemals patentiert, sonst würde ich heute kaum noch eine Menge Studiendarlehen abstottern!) Und als ich ein Teenager war, kamen dann solche Uhren, die man nie aufziehen brauchte.

Was hat das alles aber mit dem Urstoff zu tun? Nun, meines Erachtens ist es der erste neue oder umwälzende Gedanke auf einem Gebiet, der genialisch ist - auf welchem Niveau er sich befindet ist nur eine Frage der Entwicklung der Gesellschaft.
Und der Gedanke an den Urstoff - in einer Zivilisation, die bislang nur mythische Erklärungen für unser Dasein und das des Universums hatte - der Gedanke war revolutionierend. Er gab ja eine wissenschaftliche Alternative zur Schöpfung, etwas, was noch niemand zuvor gedacht hatte. Daß die Annahme dann nicht mitten ins Ziel traf, und daß es um etwas ging, das heute für uns selbstverständlich ist, ist ziemlich nebensächlich. Wären Ideen nie geboren worden, würden wir uns heute noch bei einem Öllicht die Augen verderben, während wir übten ein "A" in einen Steinscherben zu ritzen.

Deshalb glaube ich heute nicht mehr, daß unsere Ahnen geistig minderbemittelt waren, nicht einmal vor 100 Generationen. Ich glaube, daß sie uns in intellektueller Hinsicht ziemlich ebenbürtig waren. Natürlich, es gab sicher viele, die über den "Urstoff" nur den Kopf schüttelten, und ihn vielleicht als eine Idee des Teufels bezeichneten - was sollte man damit, wenn man doch wußte, daß Zeus die Pallas Athene aus seinem Kopf hervorgezogen hatte. Aber, wie gesagt, heute gibt es ja viele, die sich fragen, was man mit einem Computer tun soll, wo es doch Schreibmaschinen gibt.

Kurz gesagt, was ich erklären wollte, war, daß die Menschen vor zweieinhalbtausend Jahren im Grunde genau so kapabel waren, genau so gefühlsvoll, genau so entwicklungsträchtig, genau so machtbesessen, genau so liebesbedürftig, genau so was-immer-es-auch-sein-mag wie du und ich und der Nachbar von nebenan. Mit genau denselben Variationen der einzelnen Eigenschaften, wie sie die Menschheit heute hat, nur zu einer Zeit, da die Technologie weniger entwickelt war.
Die Menschen, die wir in dieser Zusammenstellung treffen werden, unterscheiden sich doch von dir und mir und dem Nachbarn dadurch, daß sie alle auf ihre Art und in ihrer Zeit aus der Masse herausragten - sie schrieben Geschichte!
(Diesen letzten Satz niederzuschreiben kostete mich viel, als ich bedachte, wieviele Tyrannen, Schlachthelden und Feldherren wir treffen werden - und sie als herausragend zu bezeichnen. Aber erstens sieht unsere Geschichte nun einmal so aus, und zweitens sagten wir gerade, daß sie uns fast aufs Haar gleich waren. Und auch Du, geneigter Leser, kannst Dich wohl leichter an den Namen des Oberbefehlhabers im Krieg zwischen den USA und dem Irak im Sommer 1992 erinnern, als an die Namen der Nobelpreisträger desselben Jahres, oder nicht?)


Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Jänner 1997
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