MANN UND FRAU

ZEHN


Meine Cousine war schon ein großes Mädchen, fast schon eine junge Dame. Sie hieß Elisabeth, aber wir alle nannten sie nur Sissy. Sie war vier Jahre älter als ich, also fast schon vierzehn.
Und nun war sie bei uns zu Besuch - mit ihren Eltern natürlich, aber die zählten nicht. Einen ganzen Tag lang hatte ich mich schon an ihrer Nähe erfreuen können - im Garten vor dem Häuschen, am Spielplatz um die Ecke, bei den Schaukeln. Denn schaukeln durfte man doch sogar als junge Dame noch?
Ich hatte mich schon den ganzen Tag lang glücklich gefühlt, nein, mehr noch, hatte sie mit Besitzerstolz meinen Kameraden vorgeführt - als leuchtendes Beispiel, als Supercousine.
Am schönsten war ihr Lachen, das so hell und lieblich klang wie die Christbaumglocke, die alljährlich das langersehnte Zeichen zum Erstürmen des großen Zimmers gab, wo dann die Geschenke warteten.
Und jetzt waren wir beim absoluten Höhepunkt des Tages angelangt. Unsere Eltern hatten uns beide ins Kino gehen lassen. Nach einiger Diskussion - der Weg war weit und die Hauptstraße auch am Samstagnachmittag recht verkehrsreich - hatte man beschloßen, mich der Cousine anzuvertrauen. Sie war ja doch schon so groß.
Und nun, frisch gewaschen - ich hatte mich sogar freiwillig unter die Dusche gestellt, gekämmt und mit dem neuen Hemd, das ich von meiner Tante zum Geburtstag bekommen hatte, ging ich neben meiner Cousine einher.
Es war wunderbar. Die Abendsonne leuchtete durch die Zweige der dicken Kastanienbäume, die in der Markgrafgasse eine lange Allee bildeten, und die Blätter warfen ein lustig tanzendes Muster auf das kurze, weiße Kleidchen, das in scharfem Kontrast zu Sissys tiefgebräunter Haut stand. Ihr Haar, rotgolden wie die Sonne, war mit einem Bändchen zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und in der Hand trug sie eine rote Handtasche, die sie ausgelassen umherschwenkte.
Es war ein Gefühl feierlicher Verehrung, das ich ihr entgegenbrachte, eine Art von würdevoller Achtung, ähnlich dem in einer Kirche, das aber gar nichts mit dem Schweren, Beklemmenden zu tun hatte, das sonntags wie ein unsichtbarer Riesenblock über der Kirchengemeinde zu lasten schien.
Wir waren an der Ecke zur Leopoldsstraße gekommen und wollten gerade links abbiegen, als plötzlich Renate auftauchte, winkend und meinen Namen rufend, sodaß auch Sissy aufmerksam wurde. Ich wäre gern weitergegangen und hätte Renate ignoriert, denn sie paßte gar nicht in mein Bild der Situation, aber dazu war es jetzt zu spät.
Renate war die Tochter unseres Nachbarn, ging in meine Parallelklasse in der Schule und war auch mit mir gleichaltrig. Sie war, wie ich, ein Mitglied des heimlichen Bundes der "Flußpiraten", die sich in den großen Ferien täglich im Hauptquartier trafen, unten bei dem kleinen Fluß in der Nähe von unserem Haus.
Das Hauptquartier bestand aus einem dicken Gebüsch, am Abhang zwischen Straße und Wasser, in dessen Mitte die Natur einen freien Platz geschaffen hatte, groß genug, um alle acht Mitglieder der Verschworenen zusammengedrängt sitzen zu lassen. Der Vorteil des Hauptquartiers war teils, daß man wissen mußte, wo man in die Büsche eindringen konnte, ohne sich ganz zu zerkratzen, teils daß das Blätterwerk jegliche Einsicht von oben, vom Weg her, verhinderte.
Wir hatten in unserem Bund auch zwei zwölfjährige, die uns in diesem Sommer ein neues Spiel gelehrt hatten. Wenn sie befahlen: "Küßt euch", mußten wir uns umschlingen und unsere Münder aneinanderpressen. Und Renate war, vielleicht aus nachbarschaftlichen Gründen, zu meiner Partnerin geworden.
Nun kam Renate also fröhlich einherhüpfend auf uns zu, und ich sah mich in einer Konfliktsituation, die ich im Augenblick nicht zu lösen vermochte. Vielleicht war es ein Schuldgefühl über die unaussprechlichen Dinge, die da in unserem Hauptquartier geschahen, und die mit der glorifizierten Reinheit meiner Cousine unvereinbar waren, vielleicht aber war es auch nur eine unliebsame Störung meines Idylls.
Auf jeden Fall rammte ich, statt einer Begrüßung, Renate meinen Kopf ins Gesicht, sodaß sie erst einen Augenblick verdattert dastand, dann aber, als ihr plötzlich das Blut aus der Nase schoß, weinend nach Hause rannte.
Ich aber hatte mich meiner verehrten Dame würdig erwiesen und war bereit das große Glück, den Kinobesuch, weiter zu genießen.
Sie jedoch fragte mich:
"Warum warst Du denn so böse zu ihr?"
Ach, Verehrte, Göttliche, wie soll ich dir das jemals erklären können?

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden


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