EINE WAHRE ERZÄHLUNG

ERZIEHUNG


Die dritte Klasse trat auf dem Gang vor ihrem Klassenzimmer an. Sechzehn zwölfjährige Buben standen, in Dreierreihen geschlossen, still nebeneinander, denn sie hatten gerade in den letzten zwei Stunden gemerkt, daß ihr Aufpasser, der Herr Erzieher, Professor Johann Wiesner, Johnny - es kam ganz darauf an, wer die Anrede gebrauchte, und nicht zuletzt mit wem er sprach - daß der Herr Professor schlechter Laune war.
Man hatte soeben zwei Stunden Studiums hinter sich gebracht; das bedeutete, daß man zwei Stunden lang gezwungen gewesen war, mucksmäuschenstill die Weisheiten zu absorbieren, deren man in den vormittäglichen Schulstunden teilhaft geworden war.
Nun war dies natürlich sehr relativ, denn so ganz still war es ja nie. Selbstredend hatten ein gutes Dutzend Buben in ihrem lebhaftesten Alter das Bedürfnis sich zu bewegen, einander zu hänseln oder ganz geheime Nachrichten in Schlüsselschrift weiterzugeben. Und meistens ging das alles recht gut, denn der Erzieher saß dann hinter einer Zeitung oder war in das Korrigieren von Prüfungsarbeiten vertieft, sodaß er diese Kleinigkeiten gar nicht merkte, beziehungsweise nicht merken wollte.
Aber mit Johnny war heute nicht zu spaßen. Wie ein Luchs hatte er heute auf die kleinste Unbedachtsamkeit seiner Adepten gelauert. Der kleine Willy, zum Beispiel, hatte den ganzen Samstag Ausgangsverbot bekommen, als er sich zu "Rübe" Schaumann hinübergebeugt hatte. Normalerweise kostete das nicht mehr als eine Stunde. Nicht einmal Felsenhut, der erklärte Liebling des allmächtigen Professors, hatte heute Erlaubnis bekommen, auf den Gang vor dem Klassenzimmer zu gehen, um dort das auswendigzulernende Deutschgedicht laut wiederholen zu können, sodaß es besser in Erinnerung bleiben solle. Die größte Ungerechtigkeit aber war gewesen, daß Schorschi das ganze freie Wochenende gesperrt wurde, nur weil er Werner den Radiergummi hinüberwarf, den er sich vorher ausgeliehen hatte.
Außerdem hatte es gleich anfangs eine Klassenstrafe gesetzt - sechs Seiten des Naturkundeheftes abzuschreiben - ohne ersichtlichen Grund eigentlich, vielleicht nur als Warnung, ganz allgemein. Das war ja an und für sich nicht so schlimm, denn Johnny hatte ja sowieso nie Geduld genug, hundert Seiten Strafarbeit durchzusehen, Da reichte es, wenn einer sich opferte, dessen Exemplar dann zuoberst gelegt wurde. Für die anderen war die Titelseite genug, der Rest konnte dann wahlfrei aus alten Englischaufgaben oder Lateinschularbeiten bestehen. Sogar Johnny war nur ein Mensch, und also zu überlisten.
Jetzt endlich war die Plage aus - jetzt warteten zwei Stunden Turnen als Nachmittagsunterricht. Das war ein wenig Erholung und vielleicht hatte sich die Laune des Erziehers bis zum Abendessen gebessert. Aber einstweilen stand das Stimmungsbarometer noch immer auf tief.
"Anstellen", brüllte Wiesner, sodaß es auf dem Gang widerhallte, obwohl die Gruppe ohnehin schon mustergültig dastand.
"Vordermann! Ist das eine Seitenrichtung, Hausner, du Tölp?"
Die Jungen kannten diesen Zirkus nun schon fast drei Jahre lang, jeder hatte sich automatisch auf seinen Platz gestellt, genau hinter den Vordermann und in einer Linie mit den zwei Kameraden an seiner Seite. Selbst beim Gehen hatten sie einige Übung bekommen, diese Linien beizubehalten - auch beim Stiegensteigen. Denn nicht erst einmal war es geschehen, daß ein lauschender Erzieher in den nächtlich dunklen Schlafsaal gestürzt war, weil - Gott behüte - nach dem Lichtabdrehen nicht gleich geschlafen wurde, sondern noch ein wenig geredet. Dann - in der Dunkelheit waren die Missetäter ja schwer zu erkennen - kam es wieder auf den infragestehenden Erzieher und auf seine Gesinnung an. Jeder hatte seine eigene Methode zu schinden - manche auch mehrere. Schuster, zum Beispiel, ließ mit Vorliebe alle die Betten aufreißen um sie dann innerhalb von zwei Minuten wieder bauen zu lassen. Wiesner dagegen ließ die Klasse in Dreierreihen antreten, stellte sich dann im vierten Stock an die Brüstung vom Treppenhaus, um eine gute Beobachtungsposition zu haben, und dann ging es los. Treppab, treppauf, immer vier Stockwerke, stillschweigend, in Reih' und Glied, fünfzehn Minuten, eine halbe Stunde, manchmal eine ganze - je nach Gemütslage eben.
Aber natürlich war das ein gutes Training. Jeder kannte seinen Platz im Schlaf. Wenn jemand krank war, dann blieb seine Stelle frei, bis das Signal "Aufschließen" kam. Da rückte man einen Schritt vor und alles war wieder wie es sein sollte. Auch heute lagen zwei in der Krankenabteilung - Glückselige, gerade heute - dennoch waren drei Plätze leer. Vielleicht hätte noch alles gut gehen können, wenn Peter ein wenig schneller gewesen wäre.
Aber eben als die Toilettentür hinter ihm zufiel und er die paar Meter vorwärts auf seinen Platz in der Gruppe huschen wollte, ließ Wiesner die anderen aufschließen und das Loch, in dem Peter stehen sollen hätte, wurde durch den vorrückenden Felsenhut geschlossen. Geistesgegenwärtig versuchte Peter, sich in die letzte Reihe einzuschmuggeln, aber der Erzieher sah heute alles.
"Ja, wo kommst denn du her, du Blödian?" Man konnte Wiesners Stimme sicher bis vorn in die Direktion hören. "Da hört sich doch alles auf!"
"Ich war nur auf der Toilette", sagte Peter leise.
"Aha. Auf der Toilette, also. Na, wo kommen wir denn da hin, wenn jeder tut und macht, was er will? Was glaubst du denn eigentlich, du Hanswurst? - Einreihen!"
Peter atmete ein wenig auf, das ging ja noch recht glimpflich ab. Aber das Ärgste stand ihm noch bevor. Er zögerte ein wenig, dann hob er den Blick zum Lehrer.
"Herr Professor, bitte, ich habe meine Turnhose vergessen. Darf ich..."
"Nein!" brüllte Wiesner. "Einreihen habe ich gesagt!"
In Gedanken achselzuckend stellte sich der Bub an seinen Platz, zweite Reihe links. Hier war jede Hoffnung verloren. Es war doch logisch, daß er beim Turnunterricht eine Turnhose brauchte, sonst konnte er ja nicht mitmachen. Aber was sollte er tun? Unlustig folgte er seinen Kameraden die Treppe hinunter, zur Garderobe.
Peter war ein ziemlich schmächtiger Junge, vielleicht wirkte er deshalb so zerbrechlich. Andererseits war er aber zäh und ausdauernd, sogar Schützenkönig der Klassenfußballmannschaft. Letzteres war natürlich ein großes Plus für das Ansehen, das er bei den Kameraden genoß, doch das hätte er eigentlich nicht nötig gehabt. Durch seine Kameradschaft, seine Intelligenz und seine Diplomatie wurde er von der Gruppe akzeptiert, wie auch er sie akzeptierte. Er gehörte nicht unbedingt zu denen, die bei jeder Dummheit dabei sein mußten und er kam deshalb bei den Ausgangssperren ziemlich gut davon, aber er war beileibe auch kein Muttersöhnchen oder Musterzögling. So konnte er es sich nicht verkneifen, als sie im unteren Stockwerk - außer Sichweite - in die Garderobe einbogen, seinem Nachbarn, Schorschi, eine scherzhaft verzweifelte Grimasse zu schneiden und sich mit dem Finger an die Stirn zu tippen.
Das Gedränge in dem kleinen Raum, das allen Internatschülern gemeinsam als Garderobe diente, war wüst, denn die Fächer für die Schuhe standen übereinander und so stand jeder dem anderen im Weg. Aus Erfahrung wissend, daß es geraume Zeit dauern würde, bis alle ihre Schuhe angezogen und ihre Pantoffel wieder in ihr Fach gesteckt haben würden - genug Zeit also, um die Turnhose zu holen - machte Peter noch einen Versuch. Er ging zum Lehrer, der beim Eingang wartete und das Getümmel überwachte.
"Herr Professor, darf ich bitte jetzt meine Turnhose holen?"
Da schlug Wiesner zu. Der erste Schlag brannte auf der Wange des Jungen, der instinktiv zurückwich und an der Wand zwischen Jacken und Mänteln Schutz suchte. Zornesröte überschwemmte das Gesicht des Erziehers. Er trat einen Schritt vor und schlug nochmals.
"Nein", stammelte er heiser. "Ich werde euch eure Schlamperei abgewöhnen."
Links, rechts, links hagelten die Schläge. Die Ausgehkleider der Kameraden hingen schützend um Peter, der außerdem beide Arme zur Abwehr erhoben hatte, sodaß er jetzt kaum getroffen wurde. Aber es war nicht der physische Schmerz, der am schlimmsten traf. Nein, es war die Lächerlichkeit der Sache, diese Erniedrigung einer Lappalie wegen, dieses himmelschreiende Unrecht, das Peter stöhnen ließ. Still und unbewußt zählte er die Schläge mit.
"Acht, neun, zehn." Die Kameraden hatten jetzt gemerkt, daß etwas Besonderes los war, hatten die Schuhe sinken lassen, oder waren, einen Arm im Mantel, zu Säulen erstarrt.
"Elf, zwölf, dreizehn. Du Schwein, du brutales Schwein!" Peter spürte ohnmächtigen Haß durch seine Glieder fahren. Was konnte er anderes tun, als, die Hände erhoben, so tief wie möglich zwischen die Kleider zu kriechen? Was kann ein Kind gegen den Irrsinn eines Erwachsenen tun?
"Vierzehn, fünfzehn, sechzehn." Nur das Keuchen des Erziehers und Peters leises Wimmern war zu hören. Angst mischte sich in den Haß.
"Siebzehn, achtzehn, neunzehn! Ich bringe dich um, du Hund, wenn ich es nur einmal kann. Das vergesse ich nie! Nie! Die Schläge waren unkontrolliert und trafen nur noch die Ellenbogen des Jungen.
"Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig!" Erschöpft hielt der Erzieher inne und Peter kauerte sich am Boden zusammen, das Gesicht auf die Knie gepreßt. Regungslos blieb er hocken. Jeder einzelne dieser zweiundzwanzig Schläge hatte sich in sein Herz eingeätzt, unauslöschlich festgefressen.

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Ich weiß nicht, warum Peter daheim nichts sagte, seinen Eltern nichts von dem Vorfall erzählte, er war eben noch ein Kind. Als er zwei Jahre später das Internat verließ, meinte Wiesner zu Peters Vater, daß er sich wünsche, daß alle Schüler so wie Peter wären....
Peter sprach auch später, als Erwachsener, nicht von diesem Ereignis und man behauptet ja, daß die Zeit alle Wunden heile. Aber vergessen hat Peter auch heute noch nicht. Und vielleicht, vielleicht hatte Wiesner Glück, daß er seinen Zögling niemals wiedersah.

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NACHWORT:

Als ich diese Geschichte nochmals las, fragte ich mich, ob ich nicht übertrieben hatte. Ob ich das Internatleben nicht zu schwarz gemalt hatte. Natürlich gab es auch schönere Zeiten, solche, an die man sich nachher gern erinnert. An die Kameradschaft, an die gemeinsamen Lausbubenstreiche und an vieles mehr. Aber dann erinnere ich mich an alle Schikanen, wie das erwähnte "Treppenschleifen", und dann kann ich ganz einfach nicht in das Loblied einstimmen, das da von so manchen - nachher - gesungen wird. Denn diese Erzählung ist wahr, in jedem einzelnen Detail wahr, sogar die Ausdrücke wie "Heini, du mißratener Hanswurst" läuten mir heute noch in den Ohren. Und - mit Ausnahme der veränderten Namen stellt die Erzählung ein Stück Wirklichkeit dar, das - hoffentlich - manche Eltern nochmals nachdenken läßt, bevor sie ihre Kinder leichtwindig in ein Internat stecken, um ihnen "eine gute Ausbildung und Erziehung" zukommen zu lassen.
Vermutlich ist es nicht überall so und auch in meinem Internat gab es einige vorzügliche Pädagogen, die der Institution einen guten Ruf gaben. Aber Kuckuckseier gibt es überall und das weiß man immer erst nachher.

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30 JAHRE SPÄTER

Es hört sich wie ein Märchen an, aber ich schwöre, daß auch in dieser Fortsetzung jedes Wort wahr ist. Vielleicht war das, was geschah, wirklich nur Zufall, aber die Chance muß unwahrscheinlich klein gewesen sein. Persönlich glaube ich lieber daran, daß es doch irgendeine Art höherer Gerechtigkeit gibt.
Wie die meisten jetzt erraten haben, bin ich selbst der Peter in obiger Geschichte. Als ich sie niederschrieb, waren etwa fünfzehn Jahre vergangen, seit sie sich wirklich zugetragen hatte. Damals konnte ich keine Ahnung davon haben, daß sie viel später doch noch eine Fortsetzung finden würde.
Ziemlich bald nach meiner Zeit im Internat wanderte ich nach Schweden aus, aber natürlich fuhr ich "heim" nach Wien, so oft sich eine Gelegenheit bot. Ich hatte Wiesner nicht vergessen. Ich haßte ihn abgrundtief. Natürlich hätte ich ihn niemals umbringen können, wie ich es damals in meiner Not dachte, aber ich haßte ihn so sehr, daß ich es mir mehr als einmal überlegte, ob ich ihm die zweiundzwanzig Ohrfeigen zurückzahlen sollte. Ich erinnere mich daran, daß ich eines der ersten Male, da ich in Wien auf Urlaub war, in Telefonbuch nachsah, um seine Adresse herauszufinden. Zu mehr kam es nicht - ich war mir zu gut, um ihn anzurufen und ihn zu beleidigen und das Feuer brannte wohl nicht mehr so stark, daß ich wirklich hingefahren wäre, um ihn zu "besuchen".
Wir hatten wieder einmal in Wien Urlaub gemacht und die traurige Stunde der Heimreise war angebrochen. Wie gewöhnlich hatten wir Liegeplätze im Zug nach Hamburg und wie gewöhnlich war mein Vater mit zum Bahnhof gekommen, um uns abzuwinken. Es ist immer wieder spannend, wenn man am Bahnsteig zu seinem Wagen vorgeht, weil man immer wieder hofft, ein leeres Abteil zu bekommen. Besonders diesmal - meine zwei "mittleren" Kinder, die wir mit uns hatten, waren noch ziemlich klein - hoffte ich, daß das Abteil nicht voll belegt war.
Aber als wir hinkamen saß bereits ein älterer Herr in unserem Abteil und las seine Zeitung. Er schien nicht besonders erbaut zu sein, als er uns mit den Kindern einsteigen sah, was meinen Vater zu einem Kommentar veranlaßte:
"Au weh, da habt ihr ja ein richtiges Scheusal als Begleitung erwischt."
Gleich nach uns kamen noch mehr Leute, zwei junge Mädchen, sodaß jetzt alle sechs Plätze besetzt waren. Ich stöhnte innerlich. Ein voll belegter Liegewagen ist auch ohne Kleinkinder kein Paradies. In der Nacht wird es heiß, es gibt wenig Luft und noch weniger Platz im Abteil, was zwangsläufig die Gedanken auf eine Sardinendose bringt.
Die Kinder sollten im selben Bett schlafen und wir hatten, ihretwillen, die untersten Liegeplätze und damit auch die Fensterplätze, so lange noch nicht aufgebettet war. Wenigstens das war ein Vorteil, weil sie da ja aus dem Fenster sehen konnten, wenn sie schon einen Sitzplatz teilen mußten. Meine Frau saß neben den Kindern und ich ihnen gegenüber am zweiten Fensterplatz. Die beiden Mädchen hatten die Plätze bei der Tür, deshalb kam der ältere Herr links neben mir zu sitzen.
Der Zug rollte langsam an, wir winkten und ich versuchte das Gefühl der Traurigkeit zu überwinden, daß sich in diesem Augenblick unweigerlich einstellt, obwohl ich mehr als mein halbes Leben im Ausland verbracht habe.
Dann kam der Schaffner, ein netter Kerl, der mit allen redete, während er die Fahrkarten markierte. Er ermahnte die Mädchen spaßhalber, sich von der Reeperbahn weg zu halten, wenn sie in Hamburg ankamen. Zu meinem Nachbarn sagte er:
"Da müssen wir morgen aber früh aufstehen - in Hannover sind wir schon um vier Uhr dreiundfünfzig. Aber wir können jederzeit eine halbe Stunde Verspätung dazulegen, dann wird es nicht ganz so arg."
Und als er unsere Fahrkarten sah, rief er: "Aha, ins Land der Mitternachtssonne!" Er gab den Kindern je eine Spielzeugfahrkarte und teilte an alle eine Zolldeklaration aus. Wenn wir die ausfüllten und sie ihm zusammen mit unseren Reisepässen zurückgaben, war die Möglichkeit ziemlich groß, daß uns der Zoll in der Nacht gar nicht behelligen würde, erklärte er.
Ich füllte unsere Deklarationen aus. Name, Adresse, Reiseziel, Paßnummer, mitgeführte Waren, einschließlich Valuten, Unterschrift. Weil ich ein neugieriger Mensch bin, schielte ich hinüber in den Paß meines Nachbarn, als er ihn hervorholte, um die Paßnummer einzutragen.
Alle meine Muskeln gefroren gleichzeitig, als ich den Namen sah. Mit großen Buchstaben stand es dort: Johann Wiesner. Das war nicht möglich. Solche Zufälle gibt es nicht. Mir lief es kalt über den Rücken, ich fror und schwitzte gleichzeitig. Das konnte nicht er sein. Oder doch?
Das runde Gesicht, der gedrungene, dickliche Körper, das könnte stimmen. Aber trotzdem...
Ich weiß nicht, ob Sekunden oder Stunden vergingen, während ich einfach nur existierte, bis ich meine Frau fragen hörte: "Was ist denn los?"
Ich aber schüttelte nur den Kopf, außerstande zu antworten, oder nur einen Laut hervorzubringen. Eine neue Schockwelle blitzte durch meinen Körper, als ich an sein Reiseziel dachte. Hannover, hatter der Schaffner gesagt. Das stimmte ebenfalls. Ich konnte mich erinnern, daß unser Lehrer in Hannover Verwandte gehabt hatte. Er war es! Ich schielte ihn aus den Augenwinkeln an und plötzlich sah ich es. Ich sah sein Gesicht, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen hatte, sicher, das stimmte auch.
Ich konnte nicht klar denken. Genauer gesagt, ich konnte überhaupt nicht denken. Aber ich kann mich daran erinnern, daß sogar meine Kinder mich komisch ansahen, als ich die Zolldeklaration auf meinen Sitz legte und auf den Gang hinaus ging um mir eine Zigarette anzuzünden. Um Zeit zu gewinnen. Um überhaupt ein einziges Gramm Hirn zusammenzusuchen, in dem Chaos, das sich in meinem Kopf drehte, um wenigstens ein Mindestmaß an Rationalismus in meine Gedanken und Taten zu bringen.
Draußen am Gang brauchte ich beide Hände, um das Feuerzeug ruhig zu halten, so stark war mein Zittern. Mein ganzes Ich war nur noch Gefühl.
Was sollte ich jetzt tun? Ich starrte auf Wiesner durch die Glasscheibe in der Abteiltür, bis er hochblickte und mir in die Augen sah - nichtsahnend, natürlich. Ich rauchte noch eine Zigarette, bevor ich meine Fassung einigermaßen wiedergefunden hatte.
Meine Frau hatte alle meine Geschichten gelesen, die ich in der Schreibtischlade aufbewahrte, ich brauchte also nicht lange zu erklären.
"Kannst du dich an meine Geschichte "Erziehung" erinnern", fragte ich sie daher, als ich mich wieder auf meinen Platz setzte.
"Ja, und....", fragte sie zurück.
"Das ist mein Lehrer, der hier sitzt", sagte ich. "Der, der mir die zweiundzwanzig Ohrfeigen gegeben hat."
Auch meine Frau war sprachlos und konnte es kaum glauben. Wir sprachen Schwedisch, sodaß keiner der Mitreisenden uns verstehen solle, obwohl Wiesner dennoch merkte, daß wir über ihn redeten. Er rutschte unbequem auf seinem Sitz umher, aber ich fand, daß ihm das durchaus nicht schadete und war daher auch nicht allzu vorsichtig mit meinen Gesten.
"Was soll ich jetzt tun", fragte ich meine Frau. "Soll ich ihm jetzt alle zweiundzwanzig zurückzahlen?" Das war aber nur mehr theoretisch gemeint, weil ich mich so weit beruhigt hatte, um einzusehen, daß man in einem vollbesetzten Zug nicht ganz einfach auf Leute losschlagen konnte und außerdem hätte ich es ohnehin nicht geschafft. Vielleicht wäre es anders gewesen, wäre er in den Dreißigern geblieben, aber das hier war ein älterer Mann, fast schon in der Nähe des Pensionsalters.
Nicht weil es schlimmer gewesen wäre, einen alten Mann zu schlagen, als daß er mich damals als Zwölfjährigen in blinder Raserei verprügelte, aber ich wußte, daß ich ihn nicht einmal ein einziges Mal schlagen konnte.
"Laß ihn sein", sagte meine Frau einleitend. Aber das war auch nicht gut, ich wollte nach drei Jahrzehnten böser Erinnerung die Chance nicht vergeuden, die sich mir hier auf dem Präsentierteller bot.
Ich konnte den Standpunkt meiner Frau auch verstehen, aber sie hatte das nicht selbst erlebt, sie war nicht zwischen den Jacken gestanden, ihr mußte es leichter fallen, von dem abzusehen, was er getan hatte.
Allein - das löste mein Problem auch nicht. Sollte ich ihn anschreien, ihn schimpfen? Was hätte ich davon gehabt? Sollte ich ihm erzählen, wie wir die Zeit unter ihm erlebten? Aber würde er das verstehen, verstehen wollen, oder es nur an sich abrinnen lassen?
Ich überlegte eine geraume Weile, dann bat ich meine Frau, mit mir den Platz zu tauschen, sodaß ich jetzt ihm gegenüber saß, vor allen Dingen aber neben den beiden Mädchen bei der Tür, die etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein mochten. Ich wendete mich an sie.
"Meine Damen, darf ich ihnen eine Geschichte erzählen?"
Sie sahen ein wenig verwundert aus, aber beide nickten.
"Als ich zehn Jahre alt war, schickte man mich in ein Internat", begann ich und sah, wie sich Wiesners Augenbrauen leicht hoben, obwohl er vorgab, in irgendeinem Heft zu lesen. Ich begann die schlechten Seiten des Internats zu beschreiben, inklusive des Treppenschleifens und des Bettaufreißens und der Schimpfworte. Ich zitierte sogar einen Teil von diesen, weil ich ganz sicher sein wollte, daß Wiesner wußte, worum es ging. Aber das wußte er schon, er hatte das Heft sinken lassen, saß steif da und blickte starr hinauf auf das Gepäcksnetz.
Er konnte jedoch keine Ahnung haben, worauf ich hinaus wollte. Er konnte logischerweise kaum wissen, wer ich war, ich hatte mich in den letzten dreißig Jahren stärker verändert als er. Außerdem war ich für ihn einer der vielen Schüler, die er gehabt hatte, was es auch nicht leichter machte, mich zu erkennen.
Ich erzählte den Mädchen von den Ausgangssperren und wie gesinnungsbedingt sie ausgeteilt worden waren und ihre Seufzer zeugten von ihrem Mitgefühl. Ich glaube schon, daß ich ziemlich ausdrucksvoll sprach, weil ich ja selbst so sehr gefühlsmäßig an diese Erlebnisse gebunden war.
Dann kam ich zu dem lächerlichen Zwischenfall mit der Turnhose und den Ohrfeigen in der Garderobe. Und während meine zwei Zuhörerinnen sich darüber empörten, kam ich zu meinem Schlußwort:
"Und sehen Sie, der Erzieher, von dem ich sprach, ist der Mann, der mir hier gegenüber sitzt."
Wiesner sah ziemlich mitgenommen aus und er verneinte auch sofort.
"Nein, nein, das war nicht ich, sie müssen mich mit jemand verwechseln." Klar, was hätte er sonst sagen sollen? Vielleicht: "Ja, dieses Schwein bin ich."?
Aber das war mir egal, wie auch, was die Mädchen davon hielten, denn mir war klar, daß ich sie ja nur dazu benützt hatte, zu meiner Rache zu kommen. Ich genoß es, Wiesner anzusehen, wie er jetzt genau so hilflos war, wie ich mich vor dreißig Jahren gefühlt hatte.
Bald danach begannen wir, die Liegen aufzubetten, um die Kinder niederlegen zu können. Wiesner war verschwunden, vielleicht zum Speisewagen, um sich zu stärken - das konnte er wohl brauchen. Nach einer Weile kletterten die beiden Mädchen hinauf in ihre Liegen ganz oben und auch meine Frau ging schlafen. Ich ging nochmals auf den Gang hinaus, um eine letzte Zigarette zu rauchen. Während ich dort stand, kam Wiesner zurück.
"Sie haben mir da drinnen ganz schön eingeheizt", sagte er. Ich notierte die Sie-Anrede, weil sie von seiner Seite so ganz ungewöhnlich klang.
"Ja, glauben Sie, daß dreißig Jahre mit dieser Erinnerung leichter zu tragen sind", fragte ich zurück.
Ich glaube, daß er einsah, daß es nicht so war - in dem Fall hatte ich mehr erreicht, als ich zu hoffen gewagt hatte. Er fragte auch, wer ich war, was zeigte, das er das Ereignis wirklich vergessen hatte - vielleicht war es zu unwichtig oder zu gewöhnlich für ihn. Ich sagte ihm meinen Namen.
"Komisch. Sie sind mir nicht als Problemschüler in Erinnerung", sagte er dann, vielleicht vor allen Dingen um ein wenig auszugleichen. Aber ich hatte keine Lust, mit ihm zu fraternisieren, daher verabschiedete ich mich ziemlich kühl und legte mich nieder. Am nächsten Morgen, als wir eine halbe Stunde vor Hamburg geweckt wurden, war Wiesner schon ausgestiegen.

Heute sind noch ein paar Tage seit dieser Begegnung im Zug vergangen. Ich frage mich, ob Wiesner durch dieses unfreiwillige Feedback, das ich ihm gab, zum Denken angeregt wurde. Aber eigentlich spielt es keine Rolle mehr. Mir ist es weit wichtiger, daß ich jetzt spüre, daß das alles nunmehr ein abgeschlossenes Kapitel ist.
Es ist beileibe nicht so, daß ich jetzt begonnen habe, mich gern an die Internatzeit zu erinnern, die bitteren Erinnerungen sind immer noch da, aber der glühende Haß ist weg und das tut gut. Ich habe auch Wiesner nicht verziehen, das kann ich nicht, aber ein Schleier der Gleichgültigkeit ist über das Geschehene gefallen - und in meinen Gedanken klage ich ihn nicht länger an. Vielleicht hat er aus unserer Begegnung im Zug etwas gelernt, vielleicht nicht. Aber daran zu denken ist nicht mehr meine Sache - jeder von uns muß ja zu seinen eigenen Taten im Leben Stellung nehmen.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1976, 1990, 1998


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