DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Jason


Jason, Ölgemälde von Moreau

Als ich heute von der Jagd nach Hause kam, saß Megara vor dem Haus in der Sonne. Stolz hob ich die Hirschkuh, die ich geschossen hatte, in die Höhe; ein wirklich schönes Tier, das sowohl uns wie auch meinen Eltern lange als Nahrung reichen würde. Vielleicht würde auch Iphikles eine Keule bekommen, das heißt, wenn er sich gut genug benahm und meiner Trophäe Achtung zollte... Meine Gattin aber nickte meiner Beute nur zerstreut zu und dann stotterte sie fast vor Aufregung, als sie ihre Neuigkeit erzählte.

"Du hast Besuch", sagte sie. "Er sieht aus, wie der leibhaftige Apollo, hochgewachsen, mit lockigen, blonden Haaren, die leuchten wie die Sonne selbst. Aber jetzt ist er nicht hier, er wollte sich die Stadt ansehen und zurückkommen, wenn du da bist."

"Stop, Liebste", unterbrach ich sie lachend. "Man könnte ja meinen, dass du dich auf der Stelle in diese Erscheinung verliebt hättest. Wie heißt er und von wo ist er?"

"Sein Name ist Jason, aber woher er kommt, erzählte er nicht. Ich erbot ihm natürlich, sich auszuruhen und eine kleine Erfrischung zu sich zu nehmen, so wie es gute Sitten verlangen, aber er wollte nicht bleiben, als er hörte, dass du nicht hier warst."

Ich lächelte über ihren Eifer. Der Fremde musste wirklich einen großen Eindruck auf sie gemacht haben, denn solchen Enthusiasmus hatte ich bei meiner Frau noch nicht oft gesehen. Ich wollte gerade das erlegte Tier von meinen Schultern heben, als Megara die Straße hinunter zeigte und ausrief:

"Da kommt er ja schon! Schau, da ist er ja!"

Der junge Mann machte tatsächlich einen tollen Eindruck. Er war groß, nur etwa einen Kopf kleiner als ich, und an seiner Haltung konnte man erkennen, dass er von edler Abstammung war. Die Muskeln an seinem Körper ließen wissen, dass er im Nahkampf ein harter Gegner wäre, und als er - nachdem wir Käse und Wein verzehrt hatten - mir half, die Hirschkuh abzuhäuten, sah man sofort, dass es nicht das erste Mal war, dass er solche Arbeit verrichtete.

Wie Megara schon erwähnt hatte, hieß er Jason, Sohn des Aison von Jolkos und Enkel von König Kreteus aus eben dieser Stadt in Thessalien. Mehr hatte er aber nicht erzählt, und ich wollte mich nicht als allzu neugierig hinstellen. Erst am Abend, als wir vor dem Feuer saßen über dem ein großes Stück Hirschbraten gar wurde, begann Jason seine Erzählung:

"Nun, Herakles, du fragst dich sicher, warum ich dich besuchen komme und du wunderst dich sicher über meine Schweigsamkeit - aber ich habe eine lange Geschichte zu erzählen und ich möchte sie gern von Anfang an vortragen, sodass du auch den Hintergrund verstehst."

Ich lächelte und nickte.

"So redet ein vernünftiger Mensch. Sprich und lass mich deine Erzählung hören und lass dir Zeit dabei. Ich verspreche dir meine ungeteilte Aufmerksamkeit."

Und Jason erzählte. Er begann wieder mit Kretheus, seinem Großvater, der in Jolkos regierte. Er hatte auch zwei Söhne, Aison, den Erstgeborenen, und Pelias. Als Kretheus plötzlich verstarb, befand sich jedoch Aison mit seiner ganzen Familie auf einer Reise und Pelias ergriff, im Gegensatz zu aller Anständigkeit und Tradition, die Macht. Jason, der gerade fünf Jahre alt geworden war, hatte zum ersten Mal seinen Vater auf eine Reise begleiten dürfen. Er sagte jetzt, dass er nur schwache und dunkle Erinnerungen an diese Zeit hatte, aber er glaubte, dass sie überhaupt nicht mehr gemeinsam nach Jolkos fuhren, sondern dass sein Vater ihn geradewegs zum Kentauren Chiron führte, in dessen Pflege und Erziehung er das Kind übergab.

"Ich weiß auch nicht, was mit meinen Eltern geschehen ist", fuhr det blonde Mann fort, "aber ich nehme an, dass mein Vater dann nach Jolkos gefahren ist, um den Thron zurückzubegehren. Und nachdem jede Spur von meinen Eltern fehlt, liegt es wohl nahe zur Hand, dass mein Onkel Pelias sie verschwinden ließ." Hilflos schlug Jason mit den Händen aus.

"Aber das wird sich ja nie beweisen lassen."

Dann erzählte er kurz über seine Jugend bei Chiron und dass er jetzt, im Alter von 22 Jahren, es an der Zeit fand, nach Hause zu fahren und die Königsmacht von seinem Onkel zu verlangen, die ja eigentlich ihm zustand. Jason konnte, als er so weit gekommen war, ein Lächeln nicht unterdrücken und als er meinen fragenden Blick sah, erklärte er:

"Als ich ein Stück vor Jolkos durch den letzten Fluss waden musste, stieg ich daneben und eine meiner Sandalen saß im Schlamm fest. Aber als ich mich niederbückte, um sie aufzuheben, spülte sie die Strömung fort. Ich überlegte eine Weile, ob ich mir auch die andere ausziehen solle, aber dann ließ ich sie an, weil ich ja nicht barfuß wie ein Bettler kommen wollte, um zurückzubegehren, was mir gehörte."

Das konnte ich gut verstehen, deshalb nickte ich ihm mein Einverständnis zu und er sprach weiter:

"Aber es sollte noch besser kommen... Am Abend erfuhr ich nämlich von den Leuten in der Stadt, dass mein Onkel von einem Orakel vor einem Einschuhigen gewarnt worden war! Kein Wunder, dass Pelias ein wenig bleich aussah. Er versuchte auch gar nicht, meinen Ansprüchen auszuweichen, sondern er stellte nur eine Bedingung, um mir den Thron zu überlassen. Ich sollte mich der Königsmacht würdig erweisen und das goldene Vlies nach Hause bringen. Und auch wenn das eine schwierige Aufgabe sein mag, akzeptierte ich sie. Es bedeutet ja, dass ich mit meinem Onkel nicht um den Thron kämpfen muss."

Er verstummte und sah mir gerade in die Augen, bevor er hinzufügte:

"Deshalb bin ich hier, Herakles. Ich bin dabei, eine Mannschaft zusammenzusuchen, die diese Aufgabe bewältigen kann. Und ich wollte dich bitten, mitzumachen."


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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