DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Daidalos und Ikaros


Am nächsten Morgen weckte mich Theseus und zeigte lachend aus der Höhle hinaus. Strahlender Sonnenschein lag über dem Tal und keine Spur verriet auch nur im mindesten etwas von dem gestrigen Wolkenbruch.

Es dauerte nicht lange, bis wir unser Frühstück fertig hatten und nach dem Essen machten wir uns gleich auf den Weg. Wir mussten zwar durch den Bach zurück, aber das Wasser war kaum mehr als kniehoch und wir erreichten bald die Landstraße, die uns weiter nach Norden führen sollte.

Ich sah es Hylas an, dass er sich vor Neugierde kaum bergen konnte, und ganz richtig: Kaum hatten wir unser Marschtempo erreicht, sodass wir einigermaßen flott dahinschritten, wandte sich der Junge an Theseus.

"Wieso ist es eigentlich dazu gekommen, dass die Athener die Opfer für den Minotaurus stellen mussten?"

"Das waren Tributzahlungen", sagte mein Freund düster. "Ich weiß nicht genau, wie es angefangen hat, ich glaube, eines unserer Schiffe versenkte aus Versehen ein kretensisches Schiff, was Minos sogleich zu den Waffen greifen und Athen den Krieg erklären ließ. Ich bin aber ziemlich sicher, dass er von Haus aus vorgehabt hat, diesen Tribut einzufordern, denn der Zwischenfall mit dem Schiff war kein Grund für einen vollskaligen Krieg."

Die Worte meines Freundes klangen sowohl bitter als auch zornig.

"Er hatte in diesem angezettelten Krieg zwar seinen Sohn Androgenos verloren, was ihn natürlich nicht freundlicher stimmte, aber ich wette, er war nur darauf aus, jemand zu finden, dem er diese Opferzahlungen aufhalsen konnte. Leider war Athen damals gerade in einen anderen Krieg verwickelt, sodass so gut wie alle unsere Streitkräfte aus der Stadt fort waren, als Minos angerückt kam und drohte, unsere Stadt einzunehmen und zu zerstören. Als Alternative bot er an, dass Athen fortan für die Opfer an den Minotaurus aufkommen solle. Als wir einwilligten - es war ja trotz allem das kleinere Übel - gab sich Minos auch sofort zufrieden und zog ab."

Theseus warf unwillig seinen Kopf zurück und schüttelte sich.

"Nein, weiß Gott, ich war nie ein Freund des Minos und ich bin froh, dass ihn sein Schicksal ereilt hat."

"Was?" Ich unterbrach erstaunt. "Was sagst du da? Davon habe ich ja keine Ahnung. Wie ist denn das passiert?"

"Ab und zu gibt es ja doch eine höhere Gerechtigkeit", meinte der blonde Hüne und fuhr fort: "Minos war schon seit Jahren auf Daidalos nicht gut zu sprechen. Ich verstehe das nicht, denn Daidalos muss ein wahres Genie sein. Minos hat ihn aber nur ausgenützt, scheint es, hielt ihn aber mehr oder weniger in Gefangenschaft. Daidalos durfte sich zwar einigermaßen frei bewegen, aber nur innerhalb von einem begrenzten Teil des Palastes. Ich habe ihn nur einmal kurz von Weitem gesehen, als ich nach Kreta kam. Und dann sah ich ihn natürlich bei seinem Abflug, als sein Sohn so tragisch ums Leben kam."

"Wieso, was ist denn geschehen?" Diesmal war es Hylas, der Theseus mit großen Augen ansah, als er die Frage stellte.

"Nun, Daidalos hatte es satt bekommen, sich nie nach eigenem Willen bewegen zu dürfen. Deshalb ersann er eine Möglichkeit, wie er und sein Sohn sich aus dem Staub machen konnten. Er muss jahrelang im Hof die Federn gesammelt haben, die die Vögel im Vorbeifliegen verloren, denn damit baute er für sich und Ikaros, seinen Sohn, je ein Paar Flügel. Als Klebestoff scheint er Bienenwachs verwendet zu haben, wie man nach seiner Abreise entdeckte."

Theseus betonte das Wort "Abreise", sodass es zu einer Fragestellung herausforderte. Hylas ließ sich die Chance nicht entgehen.

"Aber ist denn das wirklich möglich", fragte er, "dass man mit Flügeln fliegt, wie ein Vogel?"

"Ja, mich darfst du da nicht fragen", grinste Theseus, "ich käme damit wahrscheinlich nur in eine Richtung - hinunter. Und doch sah ich mit eigenen Augen, wie Daidalos und Ikaros ganz einfach davonflogen. Ich hatte gerade draußen im Stadion ein wenig trainiert, um mich in Form zu halten, und ich war auf dem Weg zurück zum Palast, als ich ein paar Leute zum Himmel hinaufzeigen sah. Natürlich schaute auch ich hoch und da sah ich, wie der Erfinder und sein Sohn, der damals etwa dreizahn Jahre alt gewesen sein mochte, auf dem Dach standen. Beide hatten an den Armen und auf dem Rücken Flügel angeschnallt. Ich hörte gerade, wie der Vater erklärte:
'Du brauchst keine Angst haben, Ikaros, die Flügel werden dich sicher tragen. Nur auf eines musst du achtgeben: fliege ja nicht zu hoch hinauf, denn dort ist die Sonne zu heiß und kann den Kitt zum Schmelzen bringen. So, und jetzt geht es los. Beeile dich, dort kommt schon die Wache, wir müssen ihren Pfeilen entkommen.'
Damit schwangen sich die beiden in die Lüfte und nach ein paar hilflosen Schlägen mit den Flügeln, als alle schon dachten, dass sie zur Erde stürzen würden, bekamen sie Luft unter die Schwingen und gewannen an Höhe. Gerade rechtzeitig, um dem Pfeilhagel, den ihnen die Wachen nachsandten, zu entgehen."

Theseus räusperte sich. Er sah erst mich an, dann Hylas, wie um uns davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte.

"Sie flogen tatsächlich. Es war ein ganz komisches Gefühl, das zu sehen; ich weiß nicht, wie ich euch das beschreiben soll. Es schien, als ob sich für die Menschheit eine neue Dimension öffnete, es war fast ein heiliges Gefühl. Und dann geschah das Schlimme."

Mein Freund machte eine kurze Pause und schloss die Augen, wie um sich die Szene nocheinmal vor sein inneres Auge zu rufen, bevor er weitersprach:

"Wir hörten Ikaros jauchzen - ob der Freiheit wegen, die er da oben genoss oder wegen des Gefühls der Überlegenheit, die er uns gegenüber spüren musste - ich weiß es nicht. Immer höher flog er, mit jedem Flügelschlag stieß er einen neuen Schrei des Entzückens aus. Die mahnenden Worte des Vaters waren vergessen, höher schwebte er hinauf, noch höher. Die entsetzten Rufe des Vaters, doch um Gottes Willen zurückzukehren, verhallten im All, bald war der Junge nur noch ein kleiner Punkt am Himmel. Und dann geschah es. Plötzlich wurde der Punkt wieder größer - wir alle dachten zuerst, dass er sich endlich besonnen hatte und wieder der Erde näher kommen wolle. Bald aber merkten wir, dass es kein Flug mehr war. Schnurgerade fiel Ikaros der Erdoberfläche entgegen. Als er näher kam, hörten wir ihn wieder schreien, nun aber vor Schreck, und dann sahen wir, dass er nur mehr einen Flügel hatte, dass er mit der anderen Hand verzweifelt durch die Luft ruderte, ohne jedoch den Fall aufhalten zu können. Später erfuhr ich, dass er geradewegs ins Meer gestürzt war."

Theseus zuckte mit den Schultern.

"Auch wenn es jugendlicher Leichtsinn war, der ihm das Leben kostete, war Minos aber indirekt auch an seinem Tod schuld. Hätte er Ikaros Vater besser behandelt, wäre all dies nicht geschehen.... Den Rest der Geschichte habe ich natürlich nur gehört, aber es war von Leuten, denen man vertrauen kann."

"War das, während du noch auf Kreta warst", fragte ich dazwischen, doch Theseus schüttelte den Kopf.

"Nein, das war erst vor ein paar Monaten, daheim in Athen, also Jahre nachdem ich zurückgekehrt war. Nach dem Bericht meiner Sagesmänner ist Daidalos nach Sizilien geflohen, wo er bei irgendeinem König - ich kann mich an den Namen nicht erinnern - in Dienste trat. Minos aber, der seinem Erfinder nun mehr denn je zürnte, ließ Nachforschungen anstellen, wo er sicht jetzt aufhalten mochte. Die waren jedoch vergeblich. Da ließ er sich eine schwierige Aufgabe einfallen, von der er wusste, dass nur ein Genie sie lösen konnte, und verkündete, dass er denjenigen reichlich belohnen würde, der ihm die Lösung zeigte.
Der König, bei dem Daidalos nun arbeitete, wollte klarerweise gern die Belohnung einheimsen, deshalb stellte er Daidalos die Aufgabe, die dieser auch ganz richtig löste. Dann sandte der König Herolde nach Kreta, die die Lösung vorzeigen und die Belohnung kassieren sollten."

Wir erfrischten uns an einer Quelle und füllten unsere Wasserflaschen auf. Ich dachte über den Charakter von König Minos nach. Er schien recht unterschiedliche Eigenschaften gehabt zu haben. Teils betrog er Poseidon und benahm sich übel, sowohl den Athenern als auch Daidalos gegenüber, teils war er aber auch ein Herrscher, der seinem Volk Wohlstand gebracht hatte und vernünftige Gesetze eingeführt hatte. Dass mein Freund ihn nicht leiden mochte, konnte ich gut verstehen, aber durch die persönliche Aversion zeichnete er das Bild vielleicht ein wenig zu negativ. Wahrscheinlich war Minos wie die meisten Menschen, hatte gute und schlechte Seiten. Ich wollte Theseus aber nicht beleidigen, deshalb behielt ich meine Gedanken für mich. Als wir weitergingen griff Theseus das Thema wieder auf:

"Minos aber erklärte den Herolden, dass er dem Gewinner die Belohnung persönlich auszahlen wollte und begleitete die Herolde auf der Rückfahrt nach Sizilien. Was dann geschah, wussten auch meine Informanten nicht so genau. Vermutlich waren sich die beiden Könige über die Zukunft des Daidalos nicht einig, vielleicht wollte Minos den anderen hereinlegen, wie er es schon mit so vielen getan hatte. Auf jeden Fall verbrühten ihn die Töchter des Gastgebers mit kochendem Wasser, als Minos ein Bad nahmen wollte. Und ich vergieße keine Träne über seinen Tod."

Man sah Theseus an, dass er sich in Wut geredet hatte, deshalb schwiegen wir eine lange Weile. Dann aber fragte Hylas:

"Können die Menschen auf Sizilien jetzt alle fliegen? Ich meine, weil Daidalos jetzt für alle Flügel machen kann."

"Nein", antwortete Theseus, jetzt wieder mit normaler Stimme, "denn nach dem Tod seines Sohnes hat Daidalos geschworen, nie wieder Flügel herzustellen."


© Bernhard Kauntz, Västerås 1999


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