DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Die Argo


Als wir um die letzte Ecke bogen und dann dort am Strand das Schiff liegen sahen, konnte sich Hylas nicht zurückhalten.

"Pfffau", entfuhr es ihm, "das muss das prächtigste Schiff sein, das es je auf der Welt gegeben hat."

Damit hatte er natürlich ganz recht. Auch ich hätte mir ein Schiff in dieser Größe nicht vorstellen können. Es musste ein gutes Stück über zwanzig Meter lang sein, seine schmale, ovale Form unterschied sich deutlich von den eher rund-ovalen Formen unserer herkömmlichen Trieren. Allein der Mast, der neben dem Schiff lag, musste an die acht Mannesgrößen lang sein.

Als wir näher kamen, zählte ich die Anzahl der Ruder. Ich kam auf fünfundzwanzig! Da auf der anderen Seite ebensoviele sein mussten, ergab das Platz für fünfzig Männer an den Rudern. Es erschien mir ganz natürlich, dass diese Schöpfung einen eigenen Namen haben musste, obwohl mir bisher kein Boot bekannt war, das benannt worden war. Das Wort "Argo", das vorne am Bug mit weißen Buchstaben aufgemalt war, gehörte aber einfach dazu, ganz abgesehen davon, dass es ein symbolischer Name war. Argo bedeutet ja so viel wie schnell und bei fünfzig Ruderern konnte man vermutlich erwarten, dass sie schnell war.

Ihre äußerst schlanke Form, die wir erst aus allernächster Nähe ausmachen konnten, ließ mich dann aber dennoch bedenklich werden.

"Du bist sicher, dass sie nicht seitlich umkippen wird", wandte ich mich an Argos, unseren Führer, der gleichzeitig der Erbauer des Schiffes war.

"Ja, ich glaube, du kannst beruhigt sein", antwortete er. "Schließlich sind das göttliche Maße."

Ich musste ihn wohl zweifelnd angesehen haben, denn er fügte hinzu:

"Ja, das stimmt." Athene selbst hat mir die Maße vorgegeben. Daher bin ich unbesorgt. Seht ihr den Holzkeil, ganz vorne am Bug? Das ist ein Stück von der Eiche von Dodona, das uns als Navigationshilfe dienen soll. Athene bezeichnete es als "das sprechende Holz" und lehrte mich, die Linie von dort bis zum Steuerruder im Heck als richtunggebend zu sehen. Dadurch können wir sogar auch nachts fahren, wenn es sein muss."

"Aber sag einmal", warf jetzt auch Theseus ein, "ist die Argo denn nicht zu schwer, um an Land gezogen zu werden?"

"Nein, auch das sollte kein Problem sein", entgegnete der Schiffsbauer. "Du siehst, dass sie am Kiel zwar schmäler wird, aber ganz unten dennoch flach ist. Wenn man sie auf Baumstämmen, die man als Rollen benützt, an Land zieht, sollten etwa zwanzig kräftige Männer genügen. Und wir werden fast dreimal so viele sein. Und sollten wir keine Baumstämme zur Verfügung haben, können wir sogar die Ruder zu diesem Zweck verwenden."

Es war offenbar, dass Argos mit seiner Schöpfung zufrieden war und ihr auch vollends vertraute. Ich beschloss, mich auch nicht zu beunruhigen, denn wenn Athene beim Bau mitgeholfen hatte, dann sollte ja wirklich nichts schief gehen können.

Wir waren vorgestern spät am Abend in Iolkos eingetroffen, zu spät, um noch irgendwelchen sozialen Umgang zu betreiben. Wir suchten uns nur eine Herberge und streckten uns dann nach der Wanderung endlich wieder in einem Bett aus. Aber gleich am Morgen entdeckten wir, dass wir Orpheus als Zimmernachbarn hatten. Er sollte mit seiner göttergleichen Musik auf der Leier den Ruderern den Takt angeben, erzählte er uns. Darauf freute ich mich schon jetzt, das war ohne Zweifel noch ein Plus dieser Fahrt.

Dann ging es den ganzen Tag so weiter. Überall trafen wir Leute, die auf der Argo mitfahren werden. Die meisten davon waren Berühmtheiten, wie zum Beispiel Kalais und Zetes, die beflügelten Zwillingssöhne des Boreas und der Oreithyia, der Königstochter aus Athen, die der Windgott seinerzeit nach Thrakien entführt hatte.

Wir trafen auch Tiphys aus Böotien, der die Argo steuern sollte, und später Eritos und Echionos, beide Söhne des Hermes und der Antianira.

Ialmenos und Askalaphos waren auch da, die Söhne des Ares und der Astyoche. Von ihnen wird behauptet, dass sie maßgeblich am Wiederaufbau von Orchomenos beteiligt sein sollen, und dass sie vermutlich die kommenden Regenten der Stadt sind.

Laertes war sogar aus Ithaka gekommen, um an der Expedition teilzunehmen - und das, obwohl er erst vor einem Monat Vater geworden war. Wir trafen ihn beim Mittagessen und Laertes erzählte die ganze Zeit von seinem Neugeborenen, den er Odysseus genannt hat.

Auch während des Tages strömten neue Teilnehmer in die Stadt. Erginos, der Sohn des Poseidon, kam per Schiff aus Miletos, er sollte zweiter Steuermann des Schiffes sein. Ein anderer Sohn des Meeresgottes, Euphemos, kam aus Lakonien, ein dritter, Ankaios, von Samos, und so weiter.

Ganz klar, dass über der ganzen Stadt eine freudige Atmosphäre des Wiedersehens lag, traf man doch nach langer Zeit Verwandte und Freunde wieder. Gleichzeitig konnte man aber das Knistern der Spannung spüren, das das bevorstehende Abenteuer hervorrief.

Und diese Spannung war heute früh noch gestiegen, als ein Bote in der Stadt mitteilte, dass Jason mit einer ganzen Schar Expeditionsteilnehmern aus der Peloponnesos im Laufe des morgigen Tages in Iolkos zu erwarten war.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2000


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