DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Orpheus und Eurydike


Jetzt sind wir endlich sozusagen wirklich unterwegs. Heute früh verließen wir Orpheus Gasthafen und jetzt segeln wir nach Osten. Wir werden am Bosporos vorbeifahren und dann beginnt das Abenteuer.

Es war sehr gut, dass wir gestern einen Ruhetag hatten, einen Tag, an dem wir uns alle untereinander unterhalten konnten, aber dennoch von der Öffentlichkeit abgeschirmt waren. Der Besitz von Orpheus imponierte mir übrigens. Schon allein, dass wir alle für die Übernachtung Platz bekamen, sagt alles. Und dann imponiert mir auch seine Musik, die ganz einzigartig ist. Seine Stimme dringt geradewegs in die Seele und spielt auf den Gefühlen, sodass man es gar nicht beschreiben kann. Außerdem hantiert er die Leier, die er von Apollo selbst bekommen hat, auf eine Art, wie man sie noch nie vorher vernommen hat. Einige Leute behaupten ja, dass der Gott sein richtiger Vater sei, aber offiziell ist es der König von Thrakien. Wie es darum wirklich steht, weiß wohl nur seine Mutter, die Muse Kalliope.

Dagegen können mir die Mysterien des Orpheus gestohlen bleiben. Er wollte uns doch unbedingt einweihen und alles begann sehr geheimnisvoll, sogar vor den Dienern verborgen - und wir alle mussten versprechen, Außenstehenden niemals ein Wort zu verraten. So lange war es noch wenigstens spannend. Aber dann, als er mit dem Vortrag begann, kam mir alles sehr Spanisch vor. Denn obwohl er natürlich auf Griechisch redete, verstand ich kaum ein Wort. Kosmologie und Umlaufzeiten und was weiß ich nicht noch alles, das alles waren Dinge, die nicht viele begriffen. Deshalb braucht sich Orpheus auch keine Sorgen zu machen, dass wir etwas verraten werden, die meisten von uns könnten es wahrscheinlich gar nicht. Nur die Kugeln, die er hatte, die umeinander im Kreis rollten, das Modell, wie er es nannte, die waren recht unterhaltsam.

Aber um wieder auf seine musikalischen Leistungen zurückzukommen, wie die heute vormittags, als er uns von seiner Liebe zu der Dryade Eurydike erzählte und sich selbst dabei auf der Leier begleitete. Er begann damit, seine Gemahlin zu beschreiben, wie schön sie war und wie glücklich sie beide waren. Diese Worte wurden von munteren Tönen unterstützt, fröhlich jauchzend, wie das Leben selbst für die zwei Liebenden.

Aber ihr Glück sollte nicht lange währen. Eines Tages, als sich die Nymphe am Strand zusammen mit einigen Najaden beim Tanz vergnügte, wurden sie von Aristaios beobachtet, der auf der nahen Wiese nach seinen Bienenkörben sah. Der Mann wurde von dem frohen Spiel der Mädchen so beeindruckt, dass er sich von seinen Bienen abwandte, um den Mädchen aus der Nähe zuzusehen. Unbedachterweise vergaß er, die Gesichtsmaske abzunehmen, die er als Schutz gegen die Honigsammler verwendete. Als die Mädchen dann diesem erschreckenden Anblick ausgesetzt waren, stürzten sich die Najaden sogleich ins Meer und ließen die arme Eurydike ganz allein mit dem vermeintlichen Ungeheuer. Natürlich wurde sie deshalb noch viel verwirrter und suchte daher ihr Heil in der Flucht.

Es gibt Gerüchte, die besagen, dass Aristaios böse Absichten gehegt haben soll, was die junge Frau betrifft, aber es gibt keinen Grund, der dieses verleumderische Geschwätz erhärten würde und auch Orpheus verlor kein einziges Wort darüber.

Wie dem auch sei, während die schöne Eurydike versuchte, sich in ein kleines Wäldchen, das nicht weit weg lag, in Sicherheit zu setzen, trat sie mit ihrem ungeschützten, rechten Fuß gerade auf eine Giftschlange. Die Viper stach zu und jede Hilfe war vergeblich. Als Orpheus, schnell hinzugerufen, bei seiner abgöttisch geliebten Gemahlin ankam, sah er nur noch den leblosen Körper auf den so verräterischen Steinen am Strand liegen, auf denen die Schlange sich gesonnt hatte.

Die Stimme des Dichters war jetzt langsam und traurig geworden und wurde von dumpfen, klagenden Tönen seines Instruments begleitet. Wir, die seiner Erzählung lauschten, hatten, ohne es zu merken, den Takt der Ruderschläge verlangsamt, sodass er zu einer leisen Hochachtung des Schmerzes wurde, den der Mann vorne am Bug erfahren musste und den er uns auf eine so ergreifende Weise vermittelte.

Er erzählte jetzt von den trostlosen Tagen, die dem Tod seiner Gattin folgten, von seiner Unlust an jeglicher Tätigkeit, von seinen Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen, um mit der Geliebten im Tod wieder vereint sein zu können.

Aber plötzlich hörte man die Hoffnung zwischen den düsteren Tönen der Leier durchklingen, als er von seinem Beschluss erzählte, sich in die Unterwelt wagen zu wollen, um Hades zu bewegen, ihm Eurydike wiederzugeben.

Also begann Orpheus seine Wanderung nach Süden, nur in einen grauen Mantel gehüllt. Als einzige Last trug er die Leier, damit er auf der ganzen Reise seinen schrecklichen Verlust besingen konnte. Die Menschen hatten Mitleid mit diesem vom Schicksal so schwer geplagten Mann und sie waren von der schwermütigen Musik begeistert. Auf dem ganzen Weg bekam er Wegzehrung zugesteckt, sodass er bis zu seinem schauderhaften Ziel durchzuhalten vermochte. Gleichzeitig wurden aber auch sein Gesang und seine Musik in ganz Griechenland bekannt und berühmt. Er musste nämlich bis nach Tainaron ziehen, ganz im Süden des griechischen Festlandes, auf der Halbinsel Maina in Lakonien. Dort befand sich der Eingang zur Unterwelt.

Nach vielen Wochen unterwegs erreichte Orpheus endlich die Höhle, in deren Inneren es steil zum Styx abfiel, wo Charon mit seiner Fähre darauf wartete, die toten Seelen zum Reich des Hades zu transportieren und wo Kerberos, der dreiköpfige Hund, den eigentlichen Eingang in die Unterwelt bewachte.

Als Orpheus das Gestade des dunklen Flusses erreicht hatte, weigerte sich Charon zunächst, ihn hinüber zu rudern, denn keine lebende Seele sollte Zugang zu dem Reich der Toten erhalten. Es kostete Orpheus drei ganze Tage ununterbrochenen Spiels auf seiner Leier, bevor er den Fährmann erweicht hatte, aber dann half ihm dieser auch gleich, den Höllenhund ruhig zu halten, damit für Orpheus der Eintritt frei wurde.

Und jetzt veränderte sich die Musik, die dieser gottbegnadete Musiker auf seinem Instrument hervorrief. Die Töne wurden länger, fast ausgezogen, mit einem Ansatz zum Diskant, wie um die skurrile, spukartige Stimmung zu vermitteln, die den Suchenden nun plötzlich umgab.

Aber auch in der Unterwelt war die verzaubernde Musik des Orpheus voller Magie, denn er erzählte, wie selbst Tantalos vergaß, nach den hängenden Früchten zu haschen, die sich ihm immer wieder entzogen und wie das Rad des Ixion, auf dem er festgespannt war, stehenblieb. Sogar der Stein des Sisyfos hielt ein, den Hang hinunterzurollen, als Orpheus vorbeizog; und das Wasser der Danaiden blieb in den zerbrochenen Krügen, ohne auszulaufen. Es schien, als ob jede Bewegung aufhörte, so wie jeder Laut verstummte, sobald auch nur der geringste Klang des Lautenspiels vernommen werden konnte.

Schließlich stand Orpheus vor den Herrschern der Unterwelt. Er starrte geradewegs zu Boden, weil man den Göttern nicht ins Antlitz sehen kann. Aber er spielte immer weiter und auf diese Art brachte er seine Klage vor und seine Bitte, dass ihm doch seine Eurydike wiedergegeben werden möge. Persephone wurde zuerst gerührt, vielleicht weil sie selbst noch die Sehnsucht nach dem Tageslicht in ihrer Brust spürte, wo sie ja die halbe Zeit des Jahres verbringen durfte. Sie wandte sich an Hades und meinte, dass man vielleicht eine Ausnahme machen und eine Seele, die sich schon im Totenreich befand, auf die Welt wiederkehren lassen könne. Ihr Gemahl stimmte ihr schließlich zu, aber er wandte ein, dass es für Orpheus gar nicht gut wäre, die Seele seiner Gattin in dem Zustand zu sehen, in dem sie sich in den Domänen der Dunkelheit befand. Deshalb stellte er als Bedingung, dass Orpheus weder mit Eurydike sprechen, noch sich umsehen dürfe, um nach ihr zu sehen. Sie sollte hinter ihm hergehen, bis sie das Tageslicht erreicht hatten. Verstieß er gegen dieses Gebot, würde Eurydike gezwungen werden, für immer in der Unterwelt zu bleiben.

Jetzt schwoll das Spiel der Leier zu Jubeltönen an. Eine solche Freudenmusik hatte ich bisher noch nie gehört. Die Zahl der Ruderschläge vervielfältigte sich, um mit den sprudelnden, zwitschernden Akkorden Schritt halten zu können, die jetzt plötzlich das ganze Meer zu erfüllen schienen. Ach, es war Orpheus gelungen, er würde seine Geliebte zurückbekommen.

Auf dem Rückweg merkte er kaum die Geisterwesen, die ihn umschwebten, er war nur von dem Gedanken erfüllt, möglichst schnell seine Gattin wieder in den Armen halten zu können. Sie kamen an den Styx und Orpheus setzte sich im Boot ganz vorne hin, sodass er Eurydike nicht einmal aus den Augenwinkeln erspähen möge. Charon führte sie sicher über den Fluss und jetzt verblieb nur mehr der allerletzte Teil des Weges, hinauf zur Höhle bei der Stadt Tainaron.

Aber der Weg dahin war nicht einfach. Er führte steil hinauf und es gab Stellen, an denen man auch die Hände zu Hilfe nehmen musste, um die Schwierigkeiten zu meistern. Würde auch Eurydike diese Wanderung allein schaffen können? Da oben sah man bereits einen grauen Schimmer; das musste bedeuten, dass die Öffnung der Höhle nicht mehr fern war. Orpheus kletterte an einer richtig schweren Passage vorbei und sah dann, wie der Weg schon ebener wurde, das Ziel in greifbarer Nähe lag. Aber wie erging es ihr? Konnten ihre zarten Finger wirklich den ganzen Körper auf den großen Felsen hinaufziehen, den er eben hinter sich gelassen hatte?

Orpheus blieb stehen, um nach hinten zu lauschen. Aber alles war still. Da bekam er Angst, dass Eurydike sein Tempo nicht durchhalten können hatte und instinktiv drehte er sich um, um sich zu vergewissern. Aber doch, da war sie ja, sie hatte sich eben über das letzte Hindernis hinweggesetzt. Ihre Seele war, so nahe der Außenwelt, schon vom sterblichen Körper umgeben, dieser lieblichen Gestalt, die er so gut kannte und die er so hoch schätzte. Nur die alleräußersten Konturen schienen noch nicht ganz fest geworden zu sein, kamen ihm etwas ätherhaft vor.

Doch im selben Augenblick, als er die ersehnte Frau erblickte, wurde sie von einer unsichtbaren Kraft zurückgezogen, hinunter in die Tiefe und die Finsternis. Orpheus bemerkte noch, wie sich ihre Lippen rund formten, wie aus Verwunderung - oder drückten sie ihre Sehnsucht nach ihm aus? Dann war sie weg. Es half nichts, dass er ihr nacheilte, unbedacht über die Felsen hinuntersprang, über die er soeben mühsam hinaufgeklettert war. Beim Fluss war alles zu Ende. Und diesmal ließ sich Charon nicht erweichen, wie Orpheus es auch anstellte. Die Worte von Hades waren in der Unterwelt unumstößlich. Eurydike war auf ewig verschwunden.

Ganz benommen davon, diese schrecklichen Erinnerungen wiedererzählen zu müssen, hatte Orpheus jetzt seine Schilderung unterbrochen, wie auch die Ruderer mit ihren Bewegungen aufgehört hatten, sodass auch die Argo fast zum Stillstand kam.

Erst nach einer langen Weile schloss Orpheus seine Erzählung ab. Er hatte sich nach diesem Vorfall zurückgezogen, war fast einsiedlerisch und schwermütig geworden, hatte aber in seiner Einsamkeit begonnen, über die Himmelskörper und ihre Bewegungen nachzudenken, was ihn schließlich zur Einsicht der Mysterien brachte, in die er uns gestern eingeweiht hatte.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2001


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