DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Sieben gegen Theben


Am nächsten Tag brachen wir beim ersten Sonnenschein auf, denn wir hatten noch viel Arbeit vor uns. Es wurde gleich noch mehr, als wir erwartet hatten, denn als wir uns dem Fluss näherten, sahen wir schon von weitem, dass die Überschwemmung seit gestern noch viel ärger geworden war. Die Bäume, die wir schon gefällt hatten und die wir - unseres Erachtens nach - in Sicherheit gezogen hatten, waren alle weggeschwemmt worden, weil das Hochwasser viel höher gestiegen war, als wir es für möglich gehalten hätten.

Ich war verärgert, weil uns das noch länger aufhielt. Aber das half ja auch nicht und mein Ärger verschwand bald bei der körperlichen Anstrengung, als wir erneut daran gingen, für unser Floß Bäume zu fällen. Am frühen Nachmittag hatten wir acht dicke Baumstämme entästet und zusammengebunden. Aber an ein Übersetzen des Wassers war nicht zu denken, wenn wir nicht unser Leben riskieren wollten. Da hatte Polyphemos eine glänzende Idee.

"Weißt du, Herakles, ich glaube, ich weiß, wie wir weiterkommen können." Er überlegte eine Weile, sodass ich ganz ungeduldig wurde, bevor er mir endlich seine Gedanken unterbreitete. "Es ist ja nicht weit bis zum Meer. Wenn wir uns am Rand des Flusses, dort, wo die Stömung nicht so stark ist, ganz einfach hinuntertreiben lassen, dann müssten wir auf ruhigeres Wasser treffen, sobald der Fluss ins Meer mündet."

"Genau!" Ich hatte begriffen, was mein Freund meinte. "Du bist ein Genie, Polyphemos. Wir machen einfach einen kleinen Umweg, aber wir kommen dennoch heute weiter."

Gesagt, getan. Wir paddelten vorsichtig am Rand des überschwemmten Gebietes flussabwärts. Manchmal steuerten wir sogar durch das Gebüsch am Waldrand, um nicht allzu schnell fortgerissen zu werden. Bald hatten wir auch die Flussmündung erreicht, wurden aber von dem Strom ein gutes Stück ins Meer hinausgetrieben, obwohl wir dagegen ruderten, so viel wir vermochten. Schließlich wurden wir aber Herr des wilden Wassers und näherten uns langsam dem anderen Ufer.

Wir waren ziemlich erschöpft, als wir endlich anlegen und das Floß in Sicherheit ziehen konnten. Ich war froh, dass wir noch zu essen hatten und nicht jetzt noch auf die Jagd gehen mussten. Wir beschlossen, nicht lange herumzusuchen, sondern gleich am Strand zu übernachten. Bald hatten wir ein knisterndes Feuer brennen und verzehrten unser einfaches Mahl. Wir hatten noch Zeit, ein wenig Reisig für unser Nachtlager zusammenzusuchen, aber dann funkelten auch schon die ersten Sterne am Himmel. Als wir uns niedergelegt hatten und noch eine Weile ins Feuer starrten, sagte Polyphemos:

"Weißt du, dass du den ganzen Tag lang nicht weitererzählt hast?"

Ich lachte laut auf.

"Na hör mal, wann hätte ich denn das tun sollen? Wir haben doch den ganzen Tag hart gearbeitet."

"Ja, schon", gab mein Freund zu. "Aber wäre nicht jetzt vor dem Einschlafen noch eine gute Gelegenheit?"

Ich verspürte keine größere Lust, aber andererseits wollte ich die Geschichte ja wirklich fertig erzählen. Ich rollte mich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schaute in den Nachthimmel hinauf.

"Wo sind wir denn stehengeblieben", fragte ich träge.

"Das Heer setzte sich gerade in Bewegung in Richtung Theben", antwortete Polyphemos. "Aber du, war es nicht so, dass dieser Kriegszug auch noch die Nemeischen Spiele stiftete?"

"Na, stiftete ... Ich weiß nicht, ob man es stiften nennen kann. Es war so, dass ein Drache Opheltes, den Sohn von König Lykurgos, getötet hatte. Die Krieger erschlugen den Drachen und hielten dann am Grab des Kleinen, ihm zu Ehren, Wettkämpfe ab. Da man keinen Lorbeer zur Hand hatte, nahm man wildwachsende Sellerie und flocht die Siegerkränze daraus. So weit war also dieses Kriegsheer beteiligt. Dass das alles dann von der Bevölkerung als Tradition aufgegriffen wurde und schließlich zu den Spielen führte, an denen mit der Zeit ganz Griechenland teilnahm, ist wohl kaum Absicht gewesen."

Polyphemos grunzte irgendetwas Unverständliches, was ich als Aufforderung auffasste, jetzt zum Thema zu kommen.

"In Theben war man sich bislang noch keiner Gefahr bewusst", sprach ich also weiter. "Wohl wusste man, dass Polyneikes die Argiver zum Kampf gegen Theben aufstachelte, aber das hatte er schon während so langer Zeit getan, dass man nicht allzu beunruhigt war. Außerdem wurden in Theben gerade Festspiele abgehalten, sodass sogar die normale Wachsamkeit geringer war. Hier beging Adrastos als Feldherr vielleicht seinen größten Fehler."

Ich besann mich einen Augenblick, um nachzudenken, ob meine Anklage berechtigt war, aber ich gab mir selbst recht, deshalb fuhr ich fort:

"Hätte Adrastos nämlich die Argiver direkt auf die Stadt losgelassen, wäre ihm der Überraschungseffekt sicher gewesen. Aber andererseits muss man auch einsehen, dass er vor den Gegnern großen Respekt hatte und daher zuerst einen Späher in die Stadt schicken wollte. Es war ja nicht seine Schuld, dass Tydeus alles vermasselte."

"Wieso? Was ist denn passiert?" Polyphemos sah neugierig übers Feuer zu mir herüber.

"Es war Adrastos Absicht gewesen, einen Kundschafter in die Stadt zu schicken, der vielleicht einige nützliche Dinge ausforschen konnte, die bei dem kommenden Kampf ein Vorteil sein würden. Seine Wahl fiel auf Tydeus, was verständlich war, wenn es um Unerschrockenheit und Kraft ging, doch hätte er vielleicht auch mit der Überheblichkeit seines Schwiegersohnes rechnen müssen. Es dauerte nämlich nicht lange, bevor Tydeus in der Stadt abfällige Kommentare über die Ergebnisse bei den Festspielen fällte."

"Ja, ist denn das möglich", empörte sich Polyphemos. "Ein Späher soll seine Arbeit doch so unauffällig wie möglich tun!"

"Ja, aber es kommt noch schlimmer", sagte ich und erzählte weiter. "Natürlich waren die Thebaner alles andere als begeistert, von einem Fremden so gedemütigt zu werden. Sie forderten ihn auf, doch zu beweisen wieviel er selbst vermochte, wenn er meinte, dass die Thebaner Schwächlinge wären. Und Tydeus bewies es ihnen. Er rang die stärksten Kämpfer nieder, er schleuderte den Diskus weiter als alle anderen und er lief schneller als die Besten der Stadt. Dann verhöhnte er sie auch noch, als er die Stadt verließ. Das konnten die Thebaner ganz einfach nicht auf sich sitzen lassen. König Eteokles sandte deshalb ein Aufgebot hinter Tydeus her, das ihn lebend oder tot wieder in die Stadt zurückbringen sollte. Man erzählt von fünfzig Männern, was ich persönlich für stark übertrieben halte. Vermutlich waren es eher fünfzehn - und vermutlich hatte Tydeus einen Engpass als Verteidigungsort gefunden, denn er schlug sie alle. Alle, bis auf einen, Maion hieß der. Diesen Mann schickte Tydeus wieder zurück in die Stadt, damit er dort von dem Debakel erzählen konnte. Aber was noch schlimmer war, er gab auch den kommenden Angriff preis.

'Ich heiße Tydeus', sagte er zu Maion. 'Geh zurück und melde, dass ich mit sechs weiteren Männern gekommen bin, um die Stadt zu zerstören!'

Gerade das war aber klarerweise nicht die Absicht des Adrastos gewesen, als er einen Spion in die Stadt schickte", schloss ich meine Erzählung.

Auch Polyphemos konnte ob so großer Dummheit nur den Kopf schütteln.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2004


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