DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Klythia und Leukotoe


Jetzt hätten wir uns vor dem Abschied fast noch gestritten, Polyphemos und ich. So eine dumme Geschichte. Dabei hat er vielleicht recht gehabt. Seine Version war ja wirklich logischer. Aber da hätte ich nachgeben müssen, das fällt mir manchmal schwer....

Wir hatten keine Ahnung gehabt, dass wir uns so ganz in der Nähe der Kuhfurt befanden, als wir gestern unser Nachtlager aufschlugen. Aber heute hatten wir kaum auf unserem Floss Platz genommen, als wir schon die Meeresenge sichteten, die mir die Heimkunft verhieß. Polyphemos schiffte mich hinüber, selbst wollte er das Floss behalten, um an der gegenüberliegenden Küste entlang zu fahren, bis er die Insel fand, wo er nach dem Willen der Götter seine Stadt gründen sollte.

Vor unserem Abschied aßen wir eine letzte, gemeinsame Mahlzeit und nachher naschten wir noch die Kerne einer Sonnenblume. Keiner von uns wusste richtig, was er sagen sollte. Die Gedanken an die vergangenen Wochen, die wir gemeinsam verbracht hatten, und die Gewissheit, dass wir jetzt getrennte Wege vor uns hatten, ließen keine Stimmung aufkommen.

Schließlich fragte Polyphemos, wohl hauptsächlich um überhaupt etwas zu sagen, ob ich die Geschichte der Sonnenblume kenne.

"Ja, sicher", sagte ich.

"Hm", brummte mein Freund, denn damit schien auch dieses Thema nicht zur Unterhaltung beitragen zu können. Aber er fügte dann noch hinzu: "Ich finde es rührend, dass sich Leukotoe in eine Sonnenblume verwandelte. Das beweist ja..."

"Was heißt Leukotoe", unterbrach ich ihn. Klythia wurde aus Gram zur Sonnenblume, weil sie von Apoll verschmäht wurde."

"Nein, das ist nicht richtig", versuchte mein Freund mich aufzuklären. "Es ist wahr, dass viele die Geschichte heute so erzählen, wie du gesagt hast. Und Klythia hat sehr wohl eine Hauptrolle, aber eigentlich war es ganz anders."


de la Fosse: Klytie wird in eine Sonnenblume verwandelt
"Ach", meinte ich spöttisch, "na, dann erzähle einmal, wenn du die Geschichte so gut kennst."

"Ich erzähle gar nichts", sagte Polyphemos verärgert, "wenn du es ohnehin besser weißt."

"Hör einmal zu", belehrte ich ihn. "Jedes Kind weiß bei uns, dass Klythia, die Tochter des Okeanos, in den Sonnengott verliebt war. Aber auch, dass ihr Angebeteter die Tochter von König Orchamos, also eben Leukotoe bevorzugte. Und dass der Gott die Gestalt ihrer Mutter annahm, um so in ihr Zimmer kommen zu können, um mit ihr zu schlafen. Oder stimmt das etwa nicht?

"Doch", nickte der Blondschopf mir gegenüber, während er mit den Zähnen noch einen Kern aufknackte.

"Eben", redete ich weiter. "Und alle wissen auch, dass Klythia vor Eifersucht ganz außer sich war. Dass sie deshalb zu Leukotoes Vater ging und ihn über die Liebesfreuden seiner Tochter aufklärte. Und dass König Orchamos dann ebenfalls ganz außer sich war und seine Tochter lebendig in einer Grube verscharren ließ."

Mein Freund nickte wieder.

"Na also", sagte ich. "Wie kannst du dann behaupten, dass es Leukotoe gewesen sei, die zur Sonnenblume wurde? Die war ja schon lang aus dem Spiel! Klythia hatte natürlich gehofft, dass, wenn jetzt die Rivalin beseitigt war, Apoll wieder auf sie aufmerksam werden würde. Weil er es aber nicht tat, grämte sie sich so sehr, dass sie sich in eine Sonnenblume verwandelte, um ihren Kopf den ganzen Tag lang der Sonne entgegenstrecken zu können."

Jetzt schüttelte Polyphemos den Kopf. Aber er sagte nichts. Das ärgerte mich wieder. Aufgebracht fuhr ich ihn an:

"Wenn du schon meinst, dass ich die Geschichte falsch erzähle, würdest du dann vielleicht die Güte haben, mich über meine Fehler aufzuklären?"

"Erstens war es nicht Apoll, sondern Helios, der sich in Leukotoe verliebte." Ich ließ Polyphemos nicht weiterreden, sondern unterbrach erneut:

"So? Du meinst also, dass du die Geschichte besser kennst, als ganz Theben und Umgebung?"

Ich grinste höhnisch, weil ich meiner Sache so sicher war. Polyphemos zuckte mit den Schultern, dann bequemte er sich aber dennoch zu einer Antwort.

"Du sagst vollkommen richtig 'ganz Theben und Umgebung'. Das kommt daher, dass ihr da oben so nahe bei Delphi wohnt, wo sich ja Apolls Orakel befindet. Deshalb schreibt ihr viele Dinge Apoll zu, die eigentlich Helios betreffen."

"Ach ja", fuhr ich entrüstet auf. "Du meinst also, dass wir unsere eigenen Götter nicht kennen? Und wie willst Du wissen, dass es Helios war und nicht Apoll?"

"Du müsstest es eigentlich selbst einsehen. Weißt du, wie die Sonnenblume mit einem anderen Namen heißt?"

"Ja, natürlich! Helian..." Betroffen schwieg ich.

"Helianthus. Genau. Warum wohl?" Polyphemos zog die Augenbrauen hoch. Obwohl ich einsehen musste, dass er recht hatte, versuchte ich die Flucht nach vorn.

"Gut, meinetwegen. Aber darum geht es ja gar nicht. Sondern wir reden ja davon, wer sich nun in eine Sonnenblume verwandelte."

"Auch hier spricht die Logik für meine Version. Nachdem Leukotoe lebendig begraben wurde, liegt es doch näher, anzunehmen, dass sie als Sonnenblume aus der Erde spross, meinst du nicht?" Polyphemos zuckte wieder mit den Schultern. "Aber ich will darüber nicht mit dir streiten. Meinetwegen kannst du ja an deine Version glauben, das ist mir auch recht."

Mein Freund stand auf und begann, seine Habseligkeiten in sein Ränzel zu stopfen. Ich sah ein, dass das der Anfang unseres Abschieds war. Deshalb schluckte ich meine Entgegnung, die ohnehin nur sehr löchrig gewesen wäre. Statt dessen dankte ich Polyphemos für die gemeinsam verbrachte Zeit und wünschte ihm alles Gute für seine künftigen Unternehmungen. Er sagte mir ungefähr das Gleiche, dann umarmten wir uns kurz, bevor er zum Floss hinunterging, es ins Wasser schob und dann zu rudern begann. Einmal drehte er sich noch um und wir winkten einander zu. Ich sah ihm nach bis er nur mehr als kleiner Punkt auf dem Wasser zu erkennen war.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2004


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