DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Zagreus


Jetzt bin ich wieder einmal unterwegs. Aber nach Delphi ist es ja nicht so weit, das werde ich schon in ein paar Tagen schaffen können, hoffe ich. Heute bin ich bisher gut voran gekommen. Die Wochen der Erholung bei Theseus haben mir gut getan. Wenigstens körperlich bin ich wieder vollkommen fit.

Ich bin schon gespannt darauf, was das Orakel mir zu sagen hat und ob es mir dann wirklich hilft, die dunklen Schatten aus meiner Seele zu verbannen. Auch auf die Pythia bin ich neugierig. Wahrscheinlich ist sie ein altes, runzeliges Weib, das kaum mehr hören oder sehen kann.

Ich habe auch vor, am Grab meines Halbbruders eine kurze Andacht zu halten, vorausgesetzt dass ich es finden kann. Ich weiß ja nur, dass Apoll ihn in der Nähe des Dreifußes bestattet hat. Besser gesagt, was noch von ihm übrig geblieben ist, hat er bestattet.

Ich frage mich, ob Zeus auch mir gegenüber solche Sorge gezeigt hätte, hätten mich Heras Schlangen schon als Kleinkind erwürgt? Eher nicht, denn Zagreus war ja der erklärte Liebling meines Vaters, das sagen alle, die es miterlebt haben. Ich kann das nicht bezeugen, denn das war schon vor meiner Zeit. Aber ich weiß, dass Zeus den Kleinen schon als seinen Nachfolger bestimmt hatte, der einmal sein Erbe als Herrscher über Himmel und Erde antreten sollte.

Das ist eigentlich seltsam. Wenn mein alter Herr den Dionysos sozusagen als Ersatz für Zagreus gezeugt hat, warum hat er ihm gegenüber dann nicht dieselbe Zuneigung, die er für das Original hatte? Wobei er doch den Dionysos selbst im Schenkel ausgetragen hat, als seine Mutter, Semele, verbrannte. Obwohl - vielleicht spielte gerade das eine Rolle, dass Semele, eine Menschgeborene, so töricht gewesen war, einen Gott in all seiner Herrlichkeit in seiner wahren Gestalt sehen zu wollen? Mein Vater hatte sie ja ausdrücklich davor gewarnt, aber sie bestand darauf. Nachdem Zeus ihr versprochen hatte, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, kam es, wie es kommen musste.

Immerhin rettete er noch Dionysos das Leben, als er ihn schnell in seinen Schenkel verpflanzte ... Und immerhin gab er dem Sprössling auch den Beinamen Zagreus. Vielleicht ist es aber auch so, dass Zeus das Verhältnis mit Persephone, einer Göttin, mehr schätzte? Zagreus war dadurch ja ein richtiges Götterkind und nicht so ein Mischling, wie Dionysos oder ich.

Aber wie dem auch immer gewesen sein mag, der kleine Zagreus ging einem schrecklichen Schicksal entgegen. Wohl hatte Zeus Vorsorge getroffen und Apoll beauftragt, das Kind vor Hera versteckt zu halten und für seine Erziehung zu sorgen. Apoll versteckte dann den Jungen bei den Kureten in den Wäldern des Parnass. Die Kureten hatten schon seinerzeit mit ihren lauten Waffentänzen die Schreie des neugeborenen Zeus auf Ida übertönt. Jetzt allerdings war alles vergeblich, denn diese Bestie, dieses Weib, mit dem mein Vater verheiratet ist, brauchte nicht allzu lange, um die Wahrheit herauszufinden und den Kleinen aufzuspüren.

Diese eifersüchtige Furie, die letztlich auch meine Familie auf dem Gewissen hat, schickte die Titanen aus, um Zagreus zu töten. Das taten sie denn auch mit Nachdruck. Der verzweifelte Kleine verwandelte sich zwar in seiner Angst in einen Stier, also eher ein Kälbchen, aber das half ihm auch nichts. Die Titanen erschlugen ihn und fraßen ihn dann auf, zum Teil gekocht, zum Teil sogar roh.

Pallas Athene konnte gerade noch sein - noch immer zuckendes - Herz retten und meinem Vater bringen. Der aß es dann auf, um den Fortbestand des Zagreus zu sichern. Einige sagen, dass er das Herz der Semele brachte, der er es einpflanzte. Aber auf welche Art es auch geschehen ist, ist ja eigentlich egal. Apoll sammelte schließlich die spärlichen Überreste des Jungen ein und begrub sie in Delphi.

Delphi - das war ein Stichwort für mich, damit ich mich wieder auf den Weg mache und nicht hier sitzen bleibe und den Tag wegphilosophiere. Auf zur nächsten Etappe auf dem Weg nach Delphi.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2006


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