DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Phineus und die Symplegaden


Als wir das nächste Mal an Land gingen, wurden wir von einer königlichen Garde empfangen, die uns ein Ehrengeleit zum Palast gab. Hier herrschte König Phineus, doch der arme, blinde Mann bestand nur noch aus Haut und Knochen. Trotz seiner körperlichen Schwäche empfing er uns freundlich. Als ihm Jason seine Schiffsbesatzung vorstellte, jauchzte Phineus auf, als er hörte, dass Kalais und Zetes dazugehörten.

"Endlich", rief er, gab sich aber dann Mühe, während dem Rest der Vorstellung ruhig zu bleiben. Erst als Jason fertig war, ergriff er wieder das Wort.

"Ihr werdet euch sicher fragen, warum mir die Ankunft der beiden Söhne des Windgottes so willkommen ist. Nun, es wurde mir geweissagt, dass meine beiden Schwäger mich von meiner unseligen Plage erlösen würden. Den Göttern sei Dank, lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten."

Kalais, der eher schüchtern war, errötete bei den Worten des Königs, aber Zetes fragte sofort nach:

"Was ist es denn für Plage, die dich heimsucht? Wir alle sehen, dass du nicht bei besten Kräften bist, doch wir sind Abenteurer und keine Heilkundigen."

"Ach, es ist keine innere Plage, die mich beschwert, es sind sehr körperliche Wesen. Man nennt sie Harpyien, halb Frauen, halb Vögel, die mir mein Essen stehlen oder es verderben. Kaum habe ich mich zu einem Mahl hingesetzt, sind diese Kreaturen da und nehmen mir weg, was sie ergreifen können. Es hilft auch nichts, rund um den Tisch Wachen aufzustellen, denn dann fliegen sie darüber hinweg und bedecken meine Mahlzeit mit ihren Exkrementen."

"Na, dann wollen wir uns diese Wundervögel einmal ansehen", meinte Zetes gleichmütig und blinzelte seinem Bruder zu. Und zu Phineus gewandt, sagte er: "Am besten lässt du dir gleich eine anständige Mahlzeit servieren."

Der alte König tat nichts lieber, doch kaum hatte er einen Bissen im Mund, schwirrten die zwei Harpyien heran.

"Da kommen sie schon", keuchte Phineus erstickt. "So ist es immer. Auch wenn ich sie nicht sehen kann, höre ich das Rauschen ihrer Flügel."

Kalais und Zetes blieben aber nicht untätig, sie breiteten ihre Schwingen aus und flogen den Harpyien mit gezogenen Schwertern entgegen. Überrascht wendeten diese sofort um und suchten ihr Heil in der Flucht, doch die Boreassöhne nahmen gleich die Verfolgung auf. Phineus dagegen schlang das Essen in sich, glücklich darüber, einmal satt werden zu können.

Wir ließen ihn ungestört essen, denn wir konnten ihm seine Erlösung nachfühlen. Erst als er sich voll Wonne zurücklehnte und sich über den Bauch strich, erkundigte sich Jason, warum er von den Harpyien verfolgt wurde. Traurig schüttelte der König den Kopf.

"Es ist ja meine eigene Schuld. Sowohl die Blindheit wie auch die Harpyien sind eine Strafe des Zeus, weil ich meine eigenen Söhne geblendet habe. Plexipos und Pandion sind die Kinder aus meiner ersten Ehe mit Kleopatra, einer Schwester von Zetes und Kalais. Unsere Ehe hielt aber nicht, deshalb heiratete ich ein zweites Mal. Idaea, die Tochter des Dardanos, war aber furchtbar eifersüchtig auf meine Buben - und ich war wahnsinnig verliebt in meine junge Frau. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie schon lange von meinen Söhnen verfolgt würde. Sie sähen ihr beim Baden zu, ja nicht einmal ihre Intimwäsche könne sie in Ruhe betreiben. Und nun sollten die Jungen auch noch versucht haben, sie zu vergewaltigen. Mein Fehler war, dass ich ihr glaubte und auch nachgab, als sie von mir verlangte, dass ich Plexipos und Pandion ihres Augenlichts berauben solle, damit sie ihr nicht mehr nachstellen könnten.
Schon in derselben Nacht gab ich den Auftrag, ihnen die Augen auszustechen. Zu spät sah ich ein, dass die ganze Erzählung meiner Frau erlogen war. Als Strafe dafür wurde ich selbst mit Blindheit geschlagen und musste mit der Gesellschaft der Harpyien vorliebnehmen."

Wir saßen stumm und erschüttert da, ob des Schicksals dieser Familie. Ich dachte gerade, dass wir es hier mit dem Gegenstück zu den Frauen auf Lemnos zu tun hatten, wenn nämlich die Frau und nicht der Mann zur Bestie wird. Die Lüge von einer Vergewaltigung konnte wahrlich genau so schlimme Folgen haben, wie eine körperliche Züchtigung ...

Weiter kam ich nicht in meinen Gedanken, denn jetzt kamen Zetes und Kalais zurück. Zufrieden grinsend erzählte Zetes, dass sie dieses Unheil von Phineus abgewendet hatten.

"Die zwei konnten ziemlich schnell fliegen", erzählte er. "Aber letztlich waren wir ja doch schneller. Wir hetzten sie aufs Meer hinaus und sie flogen im Eiltempo über das Wasser - und wir immer hinten nach. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wieviel Wasser es da oben im Norden gibt. Ich begann, ehrlich gesagt, schon müde zu werden, doch Kalais machte mir immer wieder Mut und das ließ mich das Tempo durchhalten."

Sein Bruder errötete wieder über das Lob von Zetes und hob abwehrend die Hände, während Zetes weitersprach.

"Gott sei Dank konnten auch diese Dämonenvögel nicht mehr so schnell fliegen, sondern wurden jetzt immer langsamer. Und als dann endlich eine kleine Insel in Sicht kam, sanken sie erschöpft dort nieder. Wir folgten natürlich nach. Ich hatte keine Kraft mehr, aber Kalais wollte ihnen schon mit dem Schwert den Kopf abschlagen, als Iris auftauchte, die Götterbotin, von Zeus gesandt. Sie versprach, dass die Harpyien von nun an Phineus in Ruhe lassen würden, dass Zeus uns jedoch befahl, sie am Leben zu lassen."

Phineus war überglücklich. Er bedankte sich unzählige Male und wollte die Söhne des Boreas mit Geschenken überhäufen, was die beiden jedoch ablehnten.

Wir wollten uns schon wieder auf den Weg zur Argo machen, als Kalais seinen Bruder erinnerte:

"Die Felsen", sagte er nur.

"Ach ja, die Felsen ..." Zetes blickte sich in der Runde um. "Da wartet wieder ein Abenteuer auf uns, Burschen. Als wir zurückflogen, nahmen wir uns ein bisschen mehr Zeit." Er grinste. "Und nur ein Stückchen weiter nördlich von hier gibt es ein Problem."

König Phineus nickte: "Die Symplegaden."

Wir sahen einander an, denn wir übrigen hatten keine Ahnung, wovon da gesprochen wurde, aber Zetes erklärte schon weiter.

"Da gibt es eine Meeresenge und an beiden Seiten sind große Felsen, die immer wieder zusammenschlagen und dann wieder auseinander gehen. Das geht in einem rasenden Tempo. Müssen wir da durch?" Er wandte sich an Phineus mit der Frage. Der König nickte wieder.

"Da sind schon viele Schiffe zerquetscht worden", sagte er. "Aber es ist der einzig mögliche Weg. Ich gebe euch jedoch den Rat, dass ihr einen Vogel mitnehmt, den ihr durch die Symplegaden fliegen lässt. Schafft es der Vogel nicht, dann solltet auch ihr umkehren. Aber wenn der Vogel durchkommt, dann müsst ihr auch losfahren, genau wenn die Felsen wieder auseinander gehen. Kommt ihr durch diese Prüfung, dann werdet ihr auch das Ziel eurer Fahrt erreichen.

Wir bedankten uns und folgten seinem Rat. Auf dem Weg zum Schiff fingen wir eine Taube. Wir hatten dann gar nicht so lange gerudert, als wir schon das Donnern der zusammenschlagenden Steine hören konnten. Und als wir näher kamen wurde uns ganz schön warm bei dem Gedanken, dass wir da vorbeikommen mussten. Jason bedeutete uns, die Argo anzuhalten.

"Leute, hier müssen wir schnell sein", witzelte er. "Wir schaffen es nicht, wenn wir vom Stand aus losrudern. Wir müssen schon gute Fahrt machen, wenn wir uns der Öffnung nähern. Wir sind jetzt etwa zwei Stadien entfernt. Wir fangen hier an, aus Leibeskräften zu rudern, gerade wenn die Falle zuklappt. Nach knapp der halben Strecke klappen die Steine wieder zu. Da lassen wir die Taube los. Die schafft es, nach dem nächsten Zuklappen durchzukommen und wir sind dann knapp dran, sodass wir, ohne bremsen zu müssen, beim nächsten Aufmachen durchkommen."

"Das hört sich in der Theorie gut an", brummte Theseus. "Aber was, wenn du nicht recht hast? Was passiert, wenn wir sehen, dass wir schlecht hinkommen? Wenn die Felsen schon ganz offen sind, zum Beispiel?"

"Wenn ich sehe, dass unsere Berechnung nicht stimmt, dann hebe ich die Hand", sagte Jason. "Dann müssen alle ganz scharf links steuern. Vielleicht können wir die Argo noch drehen, vielleicht kentern wir dadurch auch, aber das ist besser als zermalmt zu werden. Herakles übernimmt das Steuer. Er ist wohl der Stärkste von uns und kann uns dadurch am meisten beim Linksschwenk helfen, wenn es nötig wird. Sonst noch Fragen?"

"Wer lässt die Taube los", fragte jemand. "Zetes", entschied Jason. "Teils brauchen wir unsere stärksten Männer an den Rudern, teils hat Zetes heute schon einen Einsatz hinter sich. Orpheus gibt den Takt an, wie gewöhnlich. Doch diesmal im Stakkato."

Dann wurde es ernst. Alle waren sich der Gefährlichkeit des Unternehmens bewusst.

"Nach dem dritten Zusammenprall", schrie Jason und hob drei Finger. Gleich darauf waren es nur noch zwei, dann einer. Ich stand mit allen Muskeln gespannt, bereit, das Ruder fest zu halten, damit wir ganz gerade fuhren. Los! Jason ließ den Arm fallen und ein Ruck ging durch die Argo. Vier Ruderzüge, fünf, unser Tempo wurde immer größer. Der Felsen vor uns schnappte, Zetes schickte die Taube weg. Wir waren schon fast auf Volldampf. Aber vom Heck aus konnte ich nicht gut sehen, wie weit es noch war, ich sah nur, dass die Felsen vor uns größer wurden und dass die Taube gegen die Öffnung flog.

Doch die Felsen näherten sich einander schon wieder - rasend schnell. Dröhnend fielen sie gegeneinander, aber nur die längste Schwanzfeder der Taube war abgeschlagen worden und fiel taumelnd auf das Wasser zu. Jetzt waren wir dran. Unser Bug war nur mehr ganz, ganz wenig von den Felsen entfernt, als sie erneut zufielen und dann aufgingen. Zu spät für das Notbremsenmanöver, jetzt galt es alles! Trotz unserer Schnelligkeit schien die Argo nur in Zeitlupe durch die Öffnung zu kriechen. Der Bug war durch, jetzt etwa die Mitte des Schiffes, aber die Felsen kamen schon wieder auf uns zugeschossen! Ich stand ja als letzter Mann im Schiff und sah die Steine näher und näher kommen.

Einen kurzen Augenblick lang war ich sicher, dass wir es nicht ganz schaffen würden. Dann dröhnte es hinter mir, so laut, wie ich es noch nie gehört hatte. Ich sah mich um. Nur unser Heckwimpel war abgeschlagen worden, wir und die Argo waren durch!

Die Steine waren wieder auseinander gegangen und ich wartete auf das nächste Zuklappen, aber es kam nicht. Die Felsen standen jetzt fest an beiden Ufern. Ich aber stimmte in das allgemeine Freudengeheul ein, das jetzt auf dem ganzen Schiff erscholl.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2005


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