GESELLSCHAFTSKRITIK

DER SCHLANGENANBETER


Wir spielten einen Fußballvergleichskampf gegen das Schöneberger Realgymnasium, ich war als Linksverbinder in der Klassenmannschaft aufgestellt worden. Es wurde ein ausgewogenes Spiel, erst kurz vor der Pause gelang den Schönebergern das 1:0. Groß war das Geheul unter den Zuschauern, denn wir spielten in der Wiegnergasse in Schöneberg, und so hatten die Gastgeber um viele Anhänger mehr auf den Rängen als wir. Fast die ganze Schule war auf den Fußballplatz gekommen.
Als wir mit hängenden Köpfen an den Sitzplatztribünen vorbeischlichen, um von unserem Turnlehrer die richtige Taktik für die zweite Hälfte zu erfahren, schrie ein schlaksiger Junge unter den Zuschauern zu seinem Nachbarn:
"Diese Waisenknaben von der Pfahlstraße schießen wir nach der Pause klar weg, was meinst Du, Pjotr?"
Er mochte in unserem Alter sein, das heißt etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt, und er schrie es so laut, daß die Worte bis zur Laufbahn zu hören sein sollten. So sehr der Hohn dieser Worte auch schmerzen mochte, bei dem Namen Pjotr sah ich dennoch auf. Der Angesprochene reagierte kaum auf diese Provokation uns gegenüber, er nickte nur, aber in diesem Nicken lag eher Egalität als Einverständnis. Er hielt den Kopf gebeugt, sodaß sein langes, kohlschwarzes Haar in Strähnen über die Stirn hing, und er sah auf seine feingliedrigen Hände, die er auf den Knien verschränkt hielt.
Die Ermahnungen unseres Trainers bekam ich nur zur Hälfte mit, und als wir ein paar Minuten später wieder an der Tribüne vorbeigingen, machte ich einen Versuch.
"Goldi", schrie ich laut über die ersten Sitzreihen hinweg, und ich sah wie er zusammenzuckte und sich aufrichtete. Ich winkte zu ihm hinauf aber er sah mich verständnislos an. Ich deutete ihm, herunterzukommen, aber noch bevor er ein paar Schritte gemacht hatte, riefen meine Kameraden lauthals nach mir. Der Schiedsrichter stand schon bereit, die zweite Halbzeit anzupfeifen.
Im Weglaufen schrie ich noch hinauf:
"Ich bin's - der Werner aus dem Kindergarten."
Halb zurückgedreht sah ich ein Lächeln des Erkennens um seine Lippen, die unbewußt meinen Namen formten. Ich sah noch, wie auch er mir zuwinkte, dann hatte das Spiel wieder begonnen.
Unsere linke Seite spielte jetzt dort, wo ein Bretterzaun den Fußballplatz von der dahinterliegenden Straße abgrenzte, also weit weg von den Zuschauerplätzen, sodaß ich kaum Möglichkeit hatte, während des Spiels Goldi zu beobachten.
Pjotr Goldstein war gebürtiger Ungar, er war als Vierjähriger zu uns in den Kindergarten gekommen, als Flüchtling nach der Ungarnkrise. Wir Kinder hatten den uns fremden Namen Pjotr nicht geläufig genug herausgebracht, daher hatten wir ihn via seinen jüdischen Nachnamen einfach umgetauft, und er war "Goldi" geworden.
Goldi und ich hatten den gleichen Heimweg gehabt - ich erinnerte mich noch heute an unsere kindlichen Wortspiele dabei. So hieß der Wurzelkantpark so, weil dort alle Wurzeln so kantig waren, bildeten wir damals einander ein.
Bald waren wir nicht nur auf dem Weg nach Hause zusammen, sondern auch im Kindergarten beim Spielen. Meine Mutter hat heute noch Fotos aus dieser Zeit, die uns stets beisammen zeigen, egal ob in der Sandkiste oder im Spielzimmer mit Bauwürfeln beschäftigt. Goldi war mein erster Freund an den ich mich erinnern konnte. In dem Jahr, in dem wir in der Schule beginnen sollten, waren Goldis Eltern aber umgezogen und seither hatten wir voneinander nichts mehr gehört oder gesehen.
Unser Spiel stand jetzt 1:1. Erich hatte nach einem Handspiel im Strafraum den Elfmeter mit einem seiner Bombenschüsse in die Torecke gejagt. Ich wußte nicht, ob ich in dieser Hälfte viel geleistet hatte, ich war nicht allzu konzentriert und meine Gedanken schweiften immer wieder in Erinnerungen ab, die, einmal angeregt, nun laufend auf mich eindrangen.
Ich erinnerte mich an die alte Gipskatze in Goldis Zimmer, die ich zerbrochen hatte, als ich einmal wütend ein Buch nach Goldi schleuderte, das aber nur das Kunsttier getroffen hatte. Meine Wut war schnell in Scham übergegangen, aber Goldi hate mich getröstet.
"Weißt du, es war ja keine richtige Katze. Sie war ja nur aus Gips", hatte er gesagt. "Und es ist besser, daß du sie getroffen hast als mich. Denn mir hätte es sicher weh getan." Damals war er fünf Jahre alt.
Ich erreichte plötzlich einen verlaufenen Ball an der Mittellinie, zog damit sechs, sieben Meter nach vorne und paßte steil zu unserem Linksaußen, als ein Verteidiger auf mich zukam. Hans war ganz richtig in die Lücke gelaufen, dribbelte noch einen Gegner ab und hob den Ball mit einer Flanke wieder zur Mitte. Mein Bewacher stieg um einen Bruchteil zu früh in die Höhe. So erwischte ich den Ball mit dem Kopf, köpfelte in den Strafraum hinein und lief nach. Der Tormann kam mir entgegen. Ich schoß. Der Tormann erreichte den Ball noch mit den Fingerspitzen, und ich dachte schon er würde am Tor vorbeifliegen. Aber der Ball sprang nocheinmal auf und änderte - vielleicht durch eine Unebenheit des Bodens - die Richtung, prallte an die Stange und von dort ins Tor. Ein Glückstreffer. Ich jubelte natürlich, meine Kameraden fielen mir um den Hals und schlugen mir anerkennend auf den Rücken. Wir führten 2:1 und hielten die Stellung bis zum Ende.
Nach dem Spiel beeilte ich mich in die Umkleidekabine zu kommen, stand als Erster unter der Dusche und rannte dann, schnell umgezogen, zum Ausgang, wo unser Bus stand. Wie erwartet, sah ich meinen Freund am Tor lehnen. Als ich näher kam, stutzte ich.
Goldis linkes Auge war verschwollen, auf der Wange darunter war ein langer Kratzer, die Lippen waren blutverschmiert und einige Tropfen hatten auf seinem Hemd dunkle Flecken gebildet.
"Servus Werner", sagte er.
"Was ist denn los? Wie siehst du denn aus?"
"Ach, halb so schlimm." Er zuckte die Schultern und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. "Wir haben uns geschlagen."
"Warum denn?"
"Na, weil ich geklatscht habe, als du dein Tor geschossen hast."
"Pfui Teufel." Ich fand keine bessere Antwort. Meine Schultern fühlten sich plötzlich schwer an und ein Gefühl der Übelkeit stieg in mir auf, vermischt mit Zorn und Machtlosigkeit. Er sagte:
"Na, macht nichts. Die verstehen es nicht besser." Und nach einer Weile: "Es war ein schönes Tor, Werner. Wie du den Ball vorgeköpfelt hast, und dann genau in die Ecke geschossen...."
Langsam kamen auch die anderen heran. Meine Kameraden diskutierten mit den Schönebergern das Spiel und nicht zuletzt den kommenden Retourkampf in zwei Wochen. Ich machte mir mit Goldi noch einen Treffpunkt für das kommende Wochenende aus, dann mußten wir in den Bus einsteigen.
Horst, unser rechter Verteidiger und Klassenprimus setzte sich neben mich. Als wir losfuhren, fragte er mich:
"Sag einmal, stimmt das, daß dein Freund Schlangen anbetet?"
Ich besann mich gerade noch rechtzeitig, fast hätte ich ihm nämlich meine Faust mitten ins Gesicht geschlagen. Aber dadurch hätte ich mich mit ihm und vielen anderen auf eine Stufe gestellt, dadurch wäre auch ich an Goldi zum Verräter geworden.


PS: Damit ist aber keineswegs gesagt, dass ich den offiziellen, staatlichen Terrorismus gutheiße, den Israel heute gegen die Palästinier betreibt. Israel spricht von Verteidigung gegen die Selbstmordattacken, denen man ausgesetzt ist... Dass man im Gegenzug aber auf Rettungswagen und mit Panzern in Spitäler(!) schießt, hat sehr wenig mit Landesverteidigung zu tun.
Muss man nicht auch umgekehrt den Palästiniern das Recht zur Verteidigung zugestehen? Allein, die einzige "Waffe", die ihnen zur Verfügung steht, sind eben diese Selbstmordattacken. Sie haben doch sonst nichts als Steine... Nur ist es halt so, dass man diese verzweifelten Menschen, die ihr eigenes Leben opfern, viel leichter als Terroristen abstempeln kann, als demokratisch gewählte Schweine, die es - ganz offiziell - bedauern, ihre politischen Gegner nicht schon vor 20 Jahren ermordet zu haben.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1996, 2002


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