SAGENHAFTES WIEN

WIE DER ZAHNWEH-HERRGOTT ZU SEINEM NAMEN KAM


Eine von den berühmten Statuen des Stephansdomes in Wien ist die des Zahnweh-Herrgotts. Sie steht in der Armenseelennische an der Ostseite der Kirche und ist ein bekanntes, beliebtes Andachtsbild. Betrachtet man das Werk, das den Gottessohn in Halbfigur darstellt, erkennt man heute wohl kaum einen Zusammenhang mit dem Attribut, das unserem Herrn hier zuteil wurde. Anhand der Legende jedoch, die der Wiener Volksmund kennt, möchte ich es wagen, den Begriff des Zahnweh-Herrgotts zu erläutern. Natürlich bitte ich mir hier die dichterische Freiheit aus, sofern sie sich auf Namen und sonstige weniger bedeutungsvolle Daten bezieht.

Es mag zu den Zeiten unserer Ururururururgroßeltern gewesen sein (dabei kommt es hier auf ein ur- mehr oder weniger gar nicht an), als das Drama seinen Verlauf hatte. Es begann in den Abendstunden eines warmen Vorsommertages, als die etwas betagte Witwe des seligen Gärtners Habermichl aus der Leopoldstadt in die Rotenturmstraße hinaufgeschlurft kam. In den zittrigen Händen trug sie einen selbstgeflochtenen Kranz aus Heckenrosen, in den sie auch vier weiße Lilien als Zeichen ihrer Unschuld eingewoben hatte. Lange schon hatte sie diesen Bußgang vorgehabt, denn die Habermichlerin war eine rechtschaffene Frau.
Eigentlich war es ja nur ein Versehen gewesen, damals im März, als sie ihre Schwiegertochter bezichtigte, das schöne, von der Mutter überlassene Benediktinusamulett beiseite geschafft zu haben, als Vorschuß aufs Erbe, sozusagen.
Und doch war die Schwiegertochter in diesem Fall ganz unschuldig gewesen. Das hatte die alte Witwe aber erst später gemerkt, am Ostermontag, genauer gesagt, als sie wieder einmal die Matratze auftrennte, um noch ein paar Kreuzer zum Ersparten dazuzulegen. Da drinnen hatte sie nämlich das Amulett gefunden, es mußte wohl beim letzten Mal unbemerkt hineingerutscht sein.
Nun waren es nicht die Schelte an sich, die die Habermichlerin so reuig stimmten, denn wenn sie diesmal auch ungerechtfertig waren, mochten sie eben als Nachtrag zum letzten Vorwurf gelten, oder für kommende Missetaten eine Anzahlung sein. Aber es waren halt schon ein paar harte Worte gefallen. So genau erinnerte sie sich nicht mehr, aber ein Nachhallen von "verfluchtes Marktweib" und "Ablaßdirne" lag ihr im Ohr, und sie war sich nicht sicher, ob der Herrgott diese Wörter nicht auf die schwarze Waagschale werfen würde, wenn die Zeit dafür einmal gekommen war. Wohl waren sie nichts als die reine Wahrheit, aber es steht ja schließlich uns nicht zu, andere zu richten. Deshalb hatte die Habermichlerin kurz nach Ostern beschlossen, einen Bußgang zum Stephansdom zu unternehmen; und hier keuchte sie nun die letzten paar Meter zum Stephansplatz hinauf.
Sie bog links ab, um, am Nordturm mit seiner Zwiebelkuppel vorbei, zum Armenseelenwinkerl zu kommen. Sie hatte ihren guten, wenngleich auch sentimentalen Grund, warum sie dorthin wollte. Dort war es nämlich gewesen, wo ihr ihr verstorbener Mann, ihr seliger Hansl, vor unzähligen Jahren ein Bussl und das Versprechen gegeben hatte, aufs Jahr zu heiraten. Nachher hatte es gar kein Jahr mehr gedauert, aus einem anderen Grund, aber das gehört schließlich nicht hierher.
Vor dem Abbild des Heilands ließ sich die Habermichlerin nun auf die Knie, beugte demütig ihr graues Haupt, betete ein rasches Vaterunser und dann noch ein schnelles Ave Marie dazu, sodaß sie der Vergebung sicher sein konnte.
Als sie sich wieder hochrappelte, nahm sie ihren Blumenkranz mit der breiten, weißen Schleife, den sie während der Andacht vor sich hingelegt hatte, um ihn dem Heiland um den Hals zu hängen. Allein, wie sehr sie sich auch strecken und recken mochte, die Schleife verfing sich in der Dornenkrone und war weder hinauf- noch hinunterzukriegen.
Nun, die Abbitte war geleistet und mochte der Wille fürs Werk gehen, die Habermichlerin mußte dazusehen, daß sie noch aus der Stadt kam, bevor sie die Stadttore schlossen, und überhaupt hatte sie ja noch einen weiten Weg vor sich. So ließ sie also Kranz und Schleife hängen wie sie hangen und schaute, daß sie weiterkam. Daß die Schleife die rechte Hälfte des Herrn Jesus Angesicht verdeckte, würde man ihr bei der Abrechnung doch nicht so übel ankreiden können.

Wenn Sie mich fragen, ob die Habermichlerin ihre Seligkeit erlangt hat, weiß ich das genausowenig wie ob sie noch rechtzeitig aus der Stadt kam. Ich glaube aber, wir können beide Fragen positiv beantworten, denn in dem einen Fall war die alte Witwe eine viel zu kluge Frau, um sich unnötig zu versäumen, und in dem anderen nehme ich an, daß, wenn sie nichts Schlimmeres auf dem Gewissen hatte, unser Herrgott wohl ein Einsehen mit der reuigen Frau gehabt hat. Gäbe es nur keine Menschen schlechterer Sorte, als die Habermichlerin es war, wäre der Himmel schon seit langer Zeit übervoll.
So weit die Vorgeschichte. Uns bleibt jetzt noch zu erklären, wie der Zahnweh-Herrgott seinen Namen bekam.

Zur selben Stunde nämlich, als die Habermichlerin in der Leopoldstadt die Tür zu ihrer Kammer schloß, öffnete sich in der Wollzeile, also nicht weit vom Stephansplatz, eine andere. Diese führte in einen der zahlreichen, dort belegenen Weinkeller. Der Name des Kellers tut nichts zur Sache, ebensowenig wie der der drei jungen Herren, die schon sehnsüchtig auf das Rasseln der Kette gewartet hatten, das den Einlaß verkündete. Um unsere drei Helden aber unterscheiden zu können, wollen wir sie Hubertus, Augustus und Franziskus nennen. Diese munteren Gesellen hatten zwei Dinge gemeinsam. Teils waren sie alle Studiosi, teils teilten sie die Freuden, denen sich schon einst Bacchus gewidmet hatte.
Weil sie aber an geistigen Getränken weit mehr Gefallen fanden als an geistigen Studien, verwunderte es kaum, daß sie in ziemlich trüber Stimmung um den klobigen Eichentisch herumhockten. War ihnen doch kürzlich Bescheid gegeben worden, daß sie, sollten sich ihre Leistungen im nächsten Semester nicht rapide bessern, kaum Aussichten hätten, ihre akademische Laufbahn je zu vollenden.
Hubertus war es gewesen, der den Vorschlag gemacht hatte, den Ernst der Situation über einen Glasrand hinweg zu besprechen, Franziskus der, der die Humpen der ersten Runde bestellt hatte, und es war Augustinus schließlich, der nun die Stimme erhob:
"Kameraden", sprach er, den Henkel umfassend. "gar traurig ist der Anlaß, aus dem wir hier uns zusammengefunden." Hier machte er eine wohlabgewogene rhetorische Pause, während die beiden anderen betrübt mit den Köpfen nickten. Augustinus fuhr fort:
"Doch sei mir erlaubt zu erwähnen, daß Traurigkeit noch nie jemand glücklich gemacht hat." Wieder nickten die anderen beistimmend. Augustus hob das Glas mit dem goldgelb funkelnden Wein.
"Darum, Kameraden - Brüder im Schmerz - lasset mich euch raten: wir werden, komme Herbst, der Traurigkeit in Übermaß genießen - genießen wir doch nun den Inhalt dieser Becher frei jeden Kummers." Das freilich waren Worte, die Hubertus und Franziskus nicht zweimal hören brauchten, und alsbald wurde ein Gelage inszeniert, dessen Gleichen wohl nicht einmal die steinernen Wände des Gewölbes zuvor gesehen hatten.
In den frühen Morgenstunden erst, als ein blaßrosa Schein schon das Nahen des Tages versprach, torkelten die drei die Treppe zum Ausgang hoch. Tatsächlich war jede Bedrücktheit gewichen, was blieb, war jugendlicher Leichtsinn, Übermut. Es schickte sich so, daß sie auf dem Heimweg am Stephansplatz vorbeimußten, wo die aufgehende Sonne gerade die Christusstatue mit dem Kranz der Habermichlerin in ihre ersten Strahlen tauchte.
Franziskus war es, der zuerst hinsah und deutete, Augustus der, der spöttisch grinste und Hubertus schließlich, der mit schwerer Zunge lallte:
"Oh je, mir scheint der Herrgott hat Zahnweh!"
Nach diesem frechen Kommentar trollte sich das Trio davon, bald jeder in seine Richtung taumelnd, um endlich des wohlverdienten Schlafes bis am späten Nachmittag zu frönen.
Hubertus war noch nicht ganz beim elterlichen Wohnhaus angelangt, als er vermeinte, ein dumpfes Ziehen in der rechten Backe zu spüren. Als er sich daheim nachlässig und mit fahrigen Bewegungen entkleidete, war es schon ein ausstrahlender Schmerz, vom Unterkiefer aus bis hoch hinauf in die Schläfe.
Ermattet sank er auf sein Lager, totmüde die rechte Gesichtshälfte im Kopfkissen vergrabend, um so den erlösenden Schlaf zu finden. Doch vergeblich wälzte er sich hin und her, die Ruhe blieb ihm versagt. Das Stechen im Zahn wurde unerträglich. Er kroch aus dem Bett, träufelte scharfen Branntwein auf die peinigende Stelle, er machte heiße Umschläge, spülte mit eiskaltem Wasser, es half nichts. Er fingerte im Mund herum, zog an dem Zahn, er rüttelte ihn - ergebnislos.
Halb betäubt, halb irr vor Not wickelte er den Kopf in ein Tuch und wankte den Weg zurück zum Stephansdom, zum Armenseelenwinkel, wo er, ohne links oder rechts zu sehen, zu Boden fiel und mit ehrlicher Reue um Verzeihung bat für den trunkenen Frevel der ersten Stunde des Tages. Und da, wie von heilender Hand berührt, verringerte sich die Pein, verschwand von einem Augenblick zum anderen. Als Hubertus dankbar aufblickte, sah er sich von seinen Zechkumpanen umgeben, beide hatten, wie er selbst, das Antlitz noch in warme Tücher gehüllt.
Die Statue aber trug nun die Schleife um den Hals, so wie es anfangs gedacht war.Vielleicht hatte ein plötzlicher Windstoß die Schleife befreit, vielleicht war es auch ein früher Passant gewesen, der sie zurechtgerückt hatte.

Hier endet meine Geschichte. Hinzuzufügen wäre noch, daß ich hoffe, daß sich die drei liederlichen Burschen noch rechtzeitig besannen und im letzten Semester ihr Pensum vollbrachten, etwas, wobei sie sich ja nur selbst helfen konnten.
Doch wer weiß, vielleicht hat gerade der Zahnweh-Herrgott zu ihrer Besinnung beigetragen.....

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1995


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