Der Traum eines Traumes
Wenn Träume das Leben kompensieren

Ich hatte mich am Abend mit Sprachwissenschaft beschäftigt und hatte am Internet ein paar interessante Artikel gefunden. Plötzlich war es vier Uhr geworden, bevor ich mich losreißen konnte, um ein paar Stunden Schlaf zu ergattern. Ich schlief, wie gewöhnlich, schnell ein, sodass meine Tätigkeit irgendwie in den Traum eingebunden wurde.
Ich hatte eine neue Theorie entwickelt. Ich glaube, dass ich vorschlug, die Zahlwörter als Mehrzahl des unbestimmten Artikels zu sehen. Auf jeden Fall brachte mir das ein wenig Aufmerksamkeit in der Szene der Linguisten und auch einige neue Kontakte.
Es läutete an der Tür und als ich öffnete, stand ein Traum vor mir. Es war eine junge Frau - in meinem Alter ist jung relativ, heute erscheinen mir auch Vierzigjährige noch jung. Nun, sie war noch jünger, vielleicht fünfundzwanzig, dreißig. Sie überreichte mir einen Brief, eine Einladung von ihrem Chef, wie sie sagte, der gern mit mir über meine Theorie sprechen wollte. Meine Briefbotin sprach gut Deutsch, aber man konnte einen kleinen Akzent nicht überhören. Ich fragte mich, ob sie vielleicht Italienerin oder Französin war.
Ich bin, wie schon erwähnt, ein alter Mann, und weit davon entfernt, dass ich noch feurige Blicke ernte. Aber als ich sie in die Wohnung bat, um ihr nach dem Weg eine Erfrischung anzubieten, sah sie mich mit einem Blick an, der zwar nichts mit Feuer zu tun hatte, aber der mir trotzdem das Blut in die Lenden schießen ließ. Es war ein anmutiger, aber gleichzeitig herausfordernder und versprechender Blick. Etwa ein solcher, der in umgekehrter Richtung die Hälfte der Frauen "#metoo" schreien lässt. Ich allerdings sah nur ein großes Kompliment darin.
Sie war ziemlich klein, zierlich gebaut und geschmeidig in ihren Bewegungen. Sie war adrett gekleidet, aber fragen Sie mich nicht, was sie wirklich angezogen hatte, denn ich sah nur ihr Gesicht. Es war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Wieder fällt es mir schwer, Details zu beschreiben, denn ich war noch immer von ihrem Blick gefangen. Sie reichte mir die Hand, um sich vorzustellen, aber wir kamen nicht so weit. Beim ersten Kontakt unserer Finger war ich wie elektrisiert. Ich breitete meine Arme aus und plötzlich lag sie in ihnen.
Es gibt verschiedene Arten von Frauen bei einer Umarmung. Einige, auch wenn sie es noch so lieb meinen, bleiben dennoch stocksteif. Andere dagegen schmelzen in den Partner hinein. Mein Besuch war von letzterer Art. Es war ganz klar, dass wir uns küssen würden. Und was für ein Kuss es wurde. Was rede ich von Kuss? Es war ein Küsschen, aber das "-chen" war keine keusche Verkleinerung, wie etwa ein Kuss auf die Wange, sondern ein Ausdruck der Qualität. Es war eine spielerische Zärtlichkeit in ihm, die zwar Verlangen ausdrückte, aber dieses nicht in den Vordergrund stellte.
Wir standen lange ineinander verflochten. Als wir uns endlich voneinenader loslösen konnten, war mir schwindlig. Sie beugte sich vor, um ihre Schuhe abzustreifen, wie man es in Schweden bei privaten Besuchen tut. Da glitt ihre Bluse ein wenig hoch und stellte ein kleines Stück ihres Rückens zur Schau. Über meinen Rücken rann ein Frösteln und ich berührte sie leicht mit zwei Fingern an dieser bloßen Stelle. Ein schwaches Zittern überlief ihren Körper und ich hörte ein leises Stöhnen, das aber eher wie ein Aufschluchzen klang.

Als wir wieder angekleidet waren, sagte sie, dass sie zu einer Musiksession gehen wollte und fragte, ob ich mitkäme. Ja, was glauben Sie? Natürlich kam ich mit. Aber vorher musste ich ihr doch noch eine Möglichkeit geben, mich wieder zu treffen. Ich wollte aber nicht aufdringlich sein. Ich fand ein Kärtchen, auf das ich ihr schrieb, wie sehr ich mich über unsere Bekanntschaft freute und auf dem ich außerdem auch ihre Schönheit bezeugte. Als Abschluss schrieb ich, dass sie, wenn sie mehr über mich wissen wollte, dann konnte sie im Internet nach "werbeka" suchen.
Es war nicht weit zu dem Kellerlokal, wo sie hinwollte. Es ist so schön in einem Traum, in dem man keine Krämpfe spürt. Ich konnte mit Leichtigkeit mit ihr Schritt halten, obwohl mich meine Angina pectoris im wirklichen Leben keine zweihundert Meter gehen lässt, ohne mir den Brustkorb zu zerreißen. Das Lokal war größer, als ich erahnt hatte. Man bot sogar Kleinigkeiten zu essen an. Die Bude war bummvoll und die Musik inspiriert und große Klasse. Nach dem Essen sprachen wir natürlich auch mit anderen Besuchern, sie traf eine Bekannte, ich ging zur Bar, aber wir trafen uns immer wieder an unserem Tisch. Und dann war sie plötzlich weg.
Ich habe sie nie wiedergesehen, denn dann bin ich erwacht.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås 2018


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24.01.2018 by webmaster@werbeka.com