KULTURGESCHICHTE

FREITOD


Unruhig flackerte das Feuer in der Mitte der alten Kate. Unheimliche Spukgestalten tanzten durch den halbdunklen Raum, warfen lange Schatten an die Wände. In den Ecken lauerten die dunkelsten unter ihnen. Vielleicht waren es jene, die die ewige Finsternis brachten? Ewige Finsternis - für einen alten Mann, der auf seinem Lager lag und mit rotumrandeten Augen in die Flammen starrte. Heftiger Sturm umtoste die Kate und rüttelte an ihren schiefen Wänden. Er sang schaurige Lieder und rauschte in den Fichten und Kiefern, daß es sogar einen so mutigen Lappen wie den alten Nila frösteln machte. Sie hatten ihn zurückgelassen, den Alten, als sie weiterzogen. Ja, es war ein uraltes Gesetz: die Alten, die nicht mehr gehen konnten, sie mußten zurückbleiben. Sie waren nur hinderlich.
Unruhig wälzte sich der greise Mann auf seinem Lager hin und her. Er dachte an seinen Sohn, der nun mit den anderen zog. Hatte er nicht alles getan für diesen Sohn? Hatte er ihn nicht mit sich getragen, als seine Mutter bei der Geburt gestorben war? Hatte er ihn nicht alles gelehrt und gegeben, was er zu geben hatte? Und nun - nun war er fort. Aber - hatte nicht auch er selbst seinen Vater zurückgelassen? Oh, er erinnerte sich noch genau an die Worte seines Vaters. Er hatte gebeten, ihn mitzunehmen, er hatte versprochen, ihm keine Belastung zu sein, er hatte gemeint er könne doch noch gehen; aber Nila hatte nur den Kopf geschüttelt und - war gegangen. Es war ein ganz besonders strenger Winter gewesen, damals. Er erinnerte sich genau. Sie hatten sich mit den Wölfen schlagen müssen. Es war eine Nacht wie diese. Sie saßen alle rund um ein großes Feuer und brieten Fleisch. Da kamen sie angeschlichen, die schwarzen Biester, von allen Seiten. Die Männer warfen mit brennenden Ästen nach ihnen und sie antworteten mit einem schaurigen Geheul. Man konnte keinen Schritt vom Lager weggehen. Stundenlang umschlichen die dunklen Gesellen das Lager, die Hunde hatten Angst und drängten sich immer mehr zwischen die Menschen. Auch auf den Gesichtern der Frauen sah man Angst, Schrecken, als es den Wölfen endlich gelungen war, einige Rentiere zu reißen. Aber er, Nila, hatte niemals Angst gehabt. Er hatte angefangen zu singen und die anderen stimmten schließlich mit ein. Das Wolfsgeheul war die Begleitmusik. Oh, er konnte jetzt noch das Heulen der Wölfe hören. Oder...? Nilas Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. Er hob lauschend den Kopf. Ja, da kam es wieder. Langgezogene, klagende Töne waren es. Vielleicht kamen sie nun und nahmen Rache? Vielleicht war es die Strafe dafür, daß er so oft über sie gelacht hatte? Er drehte den Kopf ein wenig zum Eingang. Nein, sie konnten nicht hereinkommen - und außerdem, noch hatte er die Axt neben seinem Lager stehen. Er hatte so viele von ihnen mit der Axt getötet, er würde doch wohl noch so viel Kraft aufbringen, um mit ein paar Wölfen fertig zu werden....
Er griff nach einem großen Scheit vom Holz, das neben seinem Lager aufgestapelt war, und warf es ins Feuer. Doch es hatte ihn mehr Anstrengung gekostet als ihm lieb war und müde ließ er sich zurücksinken. Hellauf loderten die Flammen und er vermeinte einen Augenblick lang seinen Sohn neben dem Feuer sitzen zu sehen. Er war ein guter Sohn gewesen in all den Jahren. Wo mochte er jetzt sein? Sie waren noch nicht lange fort. Nila kannte den Weg genau, den sie nehmen würden. Wenn er ein kräftiges Rentier hätte, oder zwei, die er vor seinen Schlitten spannen könnte, könnte er sie vielleicht noch einholen? Fiebrig glänzten die Augen des Alten. Mühsam richtete er sich auf seinem Lager auf, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, aber ein eiserner Wille ließ ihn sich noch höher aufrichten. War nicht auch Klemmet noch mitgekommen? Und der war doch genauso alt wie er selbst. Ja, mit ihm hatte er viele Abenteuer erlebt. Einmal, es war als Klemmets erstes Enkelkind geboren worden war und sie wohl ein wenig zu viel Schnaps getrunken hatten. Nila kicherte in sich hinein. Es hatte so viel zu essen gegeben, wie zu Weihnachten. Die besten Sachen standen in langen Reihen auf den Tischen und es gab Schnaps und Bier. Und sie aßen und tranken so viel sie nur konnten. Dann, plötzlich, sahen sie einander an, Klemmet und er, und es bedurfte keiner Worte zwischen ihnen, um zu wissen, daß sie nun zur Fallgrube gehen würden um nachzusehen. Gemeinsam stapften sie wenige Minuten später durch den verschneiten Wald. Vielleicht war es die kalte Luft, die sie ein wenig schwindlig machte, oder vielleicht doch der Schnaps, jedenfalls, sie wußten später nicht mehr zu sagen, wie es zugegangen war, lagen sie plötzlich beide in der Fallgrube. Sie konnten nicht aufhören zu lachen über ihre Dummheit und sie waren froh, daß die anderen nichts davon wußten. Hoch und heilig versprachen sie sich gegenseitig, niemals ein Wort davon zu einem anderen Menschen zu sagen. Dann zog Klemmet plötzlich eine Flasche Schnaps aus seiner Tasche und sie tranken abwechselnd so lange, bis die Flasche leer war. Es wurde nachher ein sehr schwieriger Aufstieg, denn sie wankten bedenklich und es schwindelte ihn heute noch, wenn er daran dachte, wie er auf Klemmets Schultern stand und auf den Knien aus der Grube kroch. Das war Schwerarbeit gewesen. Nila ließ sich stöhnend wieder auf das Lager zurücksinken und schloß die Augen.
Doch der Schlummer des Alten dauerte nicht lange. Das Feuer war bald heruntergebrannt und die Kälte kroch dem Greis durch die müden Knochen. Er warf noch etwas Holz ins Feuer und als der helle Schein die Kate etwas beleuchtete, entdeckte er noch ein paar Rentierfelle auf der alten Truhe. Vielleicht hatte sein Sohn sie noch für ihn dorthin gelegt. Die Felle mußte er noch haben, dann würde er nicht mehr frieren. Vielleicht würde er auch noch einmal ganz gesund werden und lebte noch, wenn sein Sohn zurückkam. Dann würde er wieder mit ihnen ziehen und mit Sjur an den langen Abenden Karten spielen, und alles würde sein wie früher. Wenn sie wieder beim Feuer saßen würde er erzählen, wie er sich den Winter über durchgeschlagen hatte, und Dag, sein Sohn, würde sich mächtig freuen und stolz auf seinen Vater sein. Er mußte nur hart sein, mußte um sein Leben kämpfen. Er wollte noch nicht sterben. Es gab noch so vieles zu tun für ihn auf dieser Welt. Ja, wenn man ganz sicher wüßte, daß nach dem Tod - aber man wußte eben nichts. Nichts! Garnichts! Nein, er wollte noch nicht sterben. Er wollte seinen Sohn noch einmal sehen, wollte die Freude in seinen Augen sehen, dann - ja dann würde er abtreten, wenn es so sein mußte.

Vier Männer saßen vor ihren Zelten aus Rentierfellen. Der Feuerschein färbte ihre harten Gesichter rot.
"Ich bin dafür, daß wir das Los entscheiden lassen, wer von uns zurückfahren muß", sagte der Älteste von ihnen.
"Jaja", sagte ein anderer, "einer muß einfach zurück, wir können nicht ohne Salz auskommen."
"Ich verstehe auch nicht, wie wir den Salzsack vergessen konnten", meinte Dag.
"Es ist nicht zu ändern", meldete sich der letzte, ging zu einer Fichte und brach acht kleine Ästchen ab. Schweigend reichte er jedem von ihnen zwei davon. Acht Hände versteckten sich hinter den Rücken, vier Fäuste kamen zum Vorschein.
"Vier." - "Fünf." - "Zwei." - "Acht."
Alle öffneten die Hände. Sie hatten fünf Hölzchen zusammen. Der Sieger atmete auf, die anderen drei spielten weiter. Das Los fiel auf Dag und er fügte sich schweigend in sein Schicksal. Flüchtig dachte er an seinen alten Vater. Es war unangenehm, ihn treffen zu müssen. Er würde ihn natürlich wieder anjammern, ihn mitzunehmen. Dag schob seine Gedanken wie lästige Mücken von sich, spannte seine Rentiere vor den Schlitten und fuhr in die Nacht hinein. Er packte sich tief in seine Felle, denn die Nacht war eisig kalt, der Wind blies mit all seiner Kraft; aber es war auch etwas unendlich Schönes, dieser Kampf gegen Wind und Kälte. Nur kraftvolle Menschen konnten dieses Leben durchhalten. Und er war stark und haßte alles Kleine und Schwache. Pfui über alle, die sich hinter dem Ofen verkrochen. Dag hatte von den Bauern gehört. Die hatten Kühe! Und sie sollten sogar Hühner haben! Dag hatte noch niemals ein Huhn gesehen, aber es mußte schrecklich sein, mit Vögeln und Kühen zu leben. Den ganzen Winter lang gingen die Bauern nur hinaus um Wasser zu holen, oder Holz, damit sie sich nachher wieder zum Ofen setzen konnten. Nein, wie er diese schwachen Menschen verachtete. Auch die Alten, die jammerten, wenn sie sterben mußten. Er würde einmal sterben wie ein Mann.
Sie hatten mehrere Methoden dazu, die Lappen. Eine davon war, ungezähmte Rentiere vor einen Schlitten zu spannen, und heißa, dann ging die Fahrt los mit dem Alten. Oder sie hackten tiefe Löcher in das Eis eines Sees und steckten die Alten hinein. Oder aber, wenn sie feig waren, wie sein Vater, dann warteten sie auf den Tod, bis er sich anschlich, gingen ihm keinen Schritt entgegen. Ob sein Vater schon tot war, wenn er ankam? Weiter und weiter irrten die Gedanken Dags, während seine Rentiere wie die Teufel durch die Nacht liefen.

Nila hatte einige Stunden geschlafen. Das Feuer war wieder heruntergebrannt. Vielleicht war jetzt Morgen? Oder schon wieder Nacht, man konnte es nicht wissen. Aber er verspürte heftigen Durst. Es nützte alles nichts, er mußte hinaus, um etwas Schnee zu holen.
Unter qualvollem Stöhnen richtete er sich auf, sank zurück und versuchte es wieder. Nein! Er kam nicht hoch. Aber auf die Knie kam er doch. Mühsam kroch Nila auf seinen Knien bis zum Ausgang der Kate. Der Kopf tat weh, heftiger Schwindel überfiel den Alten. Nur jetzt nicht aufgeben. Jetzt durfte er nicht schwach werden, er wollte doch seinen Sohn im Frühjahr wiedersehen. Nun hatte er den Holzschöpfer erreicht. Noch ein Stück - nur nicht nachlassen - nur jetzt nicht aufgeben. Die Zähne schlugen aufeinander, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Endlich hatte er den Eingang erreicht. Eisiger Wind ließ ihn erschauern. Aber er biß die Zähne zusammen und kroch unter unendlicher Mühe zurück in die rauchige Kate. Nun würde er gleich Wasser haben, um seinen Durst zu stillen. Die Zunge klebte fest am Gaumen, die Lippen waren aufgesprungen, aber was machte das alles schon? Nila kam bis zum Feuer, dort blieb er vor Erschöpfung liegen, dann ließ ihn ein barmherziges Schicksal längere Zeit ohne Besinnung sein.

Dags Rentiere flogen nur so durch die Nacht. Heißa, war das schön! Was spielte es für Rolle, daß die Wölfe heulten? Sie konnten kommen, wenn sie wollten. Dag hatte keine Angst. Er wurde mit allem fertig. Das Leben war schön, er liebte es. Er liebte diese wilde Natur, diese trotzigen finsteren Wälder, die weißen Schneewüsten, alles. Nun sah er auch schon die ersten Katen auftauchen und die Rentiere fanden ihren Weg allein.
Behend sprang Dag aus seinem Schlitten und eilte auf seine Kate zu. Es machte keine Mühe die Tür zu öffnen. Sein erster Blick fiel auf seinen Vater. Das Feuer brannte noch, er konnte noch nicht lange tot sein. Ein eigenartiges Gefühl stieg plötzlich in Dag hoch. Doch da öffnete der Greis seine Augen und ein unendliches Leuchten glitt über das faltige Gesicht. Es war schön, dieses Gesicht mit den vielen, vielen Runzeln.
"Mein Sohn, ich wußte doch, daß ich dich wiedersehen würde. Oh, wie bin ich glücklich!"
"Vater, ich bin nur gekommen, um..."
Die Augen des Alten bettelten. "Laß nur, ich weiß, du konntest mich nicht allein sterben lassen, nicht wahr?"
"Wir haben vergessen..."
"Wozu sprichst du, Dag? Komm setz dich her zu mir."
"Vater, du mußt...."
"Jaja, ich weiß, mein Sohn, ich muß wieder unter die Felle kriechen, ich war wohl etwas schwach, nun aber bin ich wieder stark, nun kann ich aufstehen." Und der Alte stand plötzlich. Aufrecht wie immer. Doch nur einige Sekunden lang, dann wankte er und Dag fing ihn in seinen Armen auf. Er trug den Alten zu seinem Lager und bettete ihn darauf. "Das Salz", schoß es ihm durch den Kopf. Er biß die Zähne zusammen. Nun mußte er hart bleiben. War er denn ein altes Weib oder ein Mann? Er blickte auf den alten Mann nieder und sah wie dessen Kopf mit einem Ruck zur Seite fiel. Langsam kniete Dag nieder und sah auf seinen toten Vater. Es war als ginge ein Leuchten von diesem Gesicht aus. Lange, lange verharrte Dag in der gleichen Stellung und niemals wird je ein Mensch um seine damaligen Gedanken wissen, denn niemals kam ein Wort über seine Lippen.

- - - - -

Ich habe mit Dags Nachkommen gesprochen. Sie sagten, daß er der erste Lappe war, der seinen Söhnen lehrte, daß es keine Schande sei, im Bett zu sterben, obwohl er schließlich selbst den Freitod wählte.

Helene Hedqvist

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