DER FREMDE


Der Herbstwind blies kräftig die letzten Blätter von den schon scheinbar leblosen Bäumen, die ihre kahlen Äste wie schwarze, dürre Finger gegen den Nachthimmel streckten. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren dunkel, graugefärbt von der Finsternis.
Von weit her schien das orangenfarbige Neonlicht der Hauptstraße, während die kleinen Straßenlampen unruhig an ihren Drähten baumelten und vom Wind geschüttelt, zuckend ihr Licht umherwarfen, wie ein gaukelnder Dämon, lockend aber unwirklich, gespensterhaft.
Er stemmte sich auf seinem Fahrrad dem Wind entgegen, zu allem Überdruß führte die Straße ein Stück bergan. Die Luft war schon kalt, aber sein Körper war feucht vom Schweiß der Anstrengung. Der scharfe Wind fuhr durch die Kleider und machte ihn frösteln, wenn bei einem Tritt in die Pedale das kalte Hemd sich gegen die nasse Haut legte, und schon Sekunden später wieder eine andere Stelle abkühlte.
Erschöpft keuchte er den Berg hinauf, der Hauptstraße entgegen. Ein einsames Auto raste vorbei, schemenhaft. Irgendein Blechschild schepperte, vom Sturm gschaukelt, an einer Wand. Endlich hatte er die Höhe erreicht, müde sah er nach beiden Seiten, bevor er die Straße überquerte. Schnurgerade führte sie rechts in die Ferne, fremd und unpersönlich. Kein sichtbares Wesen befand sich in seinem Blickfeld, nur der eisige Wind ließ die Blätter auftanzen, in einem geistergleichen Reigen.
Links eine Verkehrsgabelung, die Wegweiserschilder hoch über der Fahrbahn, ein Richtungspfeil zeigte den Weg nach Stockholm an.
Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder ein Kind zu sein, eine Gänsehaut zog über seinen Rücken. Er fühlte sich klein, nein, die Dinge schienen ihm größer, drohender. Das Scheppern klang lauter, das Wirbeln der Blätter war unheimlich geworden, die Gewalt der Natur fast gefährlich.
Dennoch fühlte er sich glücklich. Ohne zu denken, sah er sich als Zehnjähriger abends allein nach Hause gehen. Sie hatten ein Stück außerhalb der Stadt gewohnt, der Heimweg war unbeleuchtet, die Phantasie des Jungen erregend.
Doch das war daheim - weit fort von hier, in einem anderen Land. In einem Land, wo die Menschen reagierten wie er selbst, wo er ein Teil des Ganzen war. Sie waren nicht besser, die Menschen, auch nicht schlechter; sie waren nur vertraut, die Gemeinsamkeit schuf das Verständnis. Deshalb war er diesen Augenblick lang glücklich.
Aber nur einen Augenblick lang. Mit einem Ruck fuhr er auf, fand in die Wirklichkeit zurück. Er schüttelte den Kopf, lächelnd über seine Träumerei.
"Was mache ich eigentlich hier", fragte er laut in den Wind hinein, aber er wußte die Antwort. Es war zu spät um zurückzukehren, auch in der Heimat würde er heute ein Fremder sein, zu lange war er schon fort.
Erneut trat er hart in die Pedale, um gegen den Wind, gegen die Fremdheit, gegen sich selbst zu kämpfen.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden, 1977 & 1997


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