DIE FREIZEITSCHULE


Diese Erzählung habe ich 1977 geschrieben, 7 Jahre bevor ich zum ersten Mal die Tastatur eines Computers berührte, 15 Jahre ehe das Problem der Arbeitslosigkeit die Dimensionen der heutigen Zeit erreichte, und 18 Jahre bevor ich zum ersten Mal etwas vom Internet hörte. Im Rückblick betrachtet, könnte man diese Erzählung fast als hellseherisch bezeichnen. Und bis zum Jahr 2002 dauert es ja noch ein wenig......

Gewidmet meiner Dienstagsgruppe von deutschlernenden Angestellten bei ASEA, Västerås, die mir durch unsere gemeinsamen Diskussionen über dieses Thema die Idee zu dieser Erzählung gegeben hat.

Ich weiß heute nicht mehr so genau, in welchem Jahr es war, es mochte kurz vor der Jahrtausendwende gewesen sein, oder nein, kurz danach, denn ich war schon im Gemeinderat tätig, und dorthin hatte man mich erst im Jahr 2002 gewählt. Auf jeden Fall geschah es zusammen mit den großen Computerrationalisierungen im Verwaltungssektor. Sie wissen schon, damals, als wir in jeder Wohnung eine Verbindung zur Computerzentrale einrichten konnten.
Erinnern Sie sich noch, wie es damals zu den Unruhen und zu der großen Zerstörungswelle gekommen ist, als die Leute plötzlich nur mehr vier Stunden am Tag arbeiten brauchten? Man hatte alles versucht um den Leuten zu helfen, ihre Freizeit zu gestalten. In einigen Gemeinden war man so weit gegangen, die neuen dreidimensionalen Fernsehgeräte gratis zu verteilen, um den Menschen Beschäftigung zu verschaffen und somit die Vandalisierung in Grenzen zu halten.
Unsere Gemeinde war ziemlich spät an die Reihe gekommen, beim Einbau der Heimcomputerstellen, und wir wußten also schon, was uns bevorstehen würde. Damals saß ich auch im Vorstand der Verwaltungskomplexe zwei und fünf. Und wir hielten uns an die allgemeinen Richtlinien, die besagten, die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich zu begrenzen. Das war zwar nur ein Vorschlag an den wir nicht gebunden waren, denn die einzelnen Komplexe hatten ja schon ziemlich autonome Rechte, wie Ihnen ja sicher noch bekannt ist.
Als nun die Installation im zweiten Sektor begann, sahen wir uns bald den Problemen gegenüber, die wir erwartet hatten. Laute Jubelrufe anfangs, jetzt weniger Arbeit zu haben, erstickten bald in den klagenden Wehlauten der mißhandelten Opfer, die sich, einer Horde von gelangweilten Mitmenschen gegenübergestellt, die derben und oft handgreiflichen Spässe dieser gefallen lassen mußten, um damit zum Volksvergnügen beizutragen. Auch wenn es heute nicht mehr in der Zeit liegt, mit historischen Vergleichen zu kommen, kann ich nicht umhin, deutliche Parallelen mit den Gladiatorspielen im alten Rom zu sehen. Nur daß die modernen Widersacher nicht aus wilden Tieren bestanden, sondern aus Nachbarn, Bekannten und sogar Verwandten.
Während man mit dem Ausbau der Anlagen im dritten Sektor beschäftigt war, kam mir der Gedanke - ich will mich dessen aber nicht rühmen - die Freizeitgestaltung zu organisieren. Geboren wurde die Idee der Freizeitschule. Sie, die nur die Freizeitschule von heute kennen, dürfen ja nicht denken, daß sie zu dieser Zeit, also in ihren Anfangsstadien, so wohl ausgeformt und individualisiert war, wie heute. Aber das Prinzip war im Grunde genommen dasselbe. Zwei Stunden wahlfreier Unterricht und zwei Stunden Hobbytätigkeit nach Interesse.
Die Idee hatte am Anfang viele Gegner unter meinen Kollegen im Gemeinderat, aber ich ließ nicht locker und setzte es schließlich durch, im Zweier das System probeweise einzuführen.
Nun, es schien als sollten die anderen recht behalten. Die Masse zeterte und haderte gegen diese neue Institution, die ihnen angeblich so wertvolle Freiheit raubte und sie in gleichrichtende Formen zwängte. Es sah gar nicht gut aus, die Lokale wurden etliche Male zertrümmert, die Menschen weigerten sich am Unterricht teilzunehmen, ja sogar Interessenvertretungen, wie Sportvereine, Briefmarkenklubs und was es da alles gab, protestierten energisch, obwohl sie von der Einrichtung der Freizeitschule profitieren mußten.
Ich weiß nicht, wie sich das Projekt mit der Zeit entwickelt hätte, wahrscheinlich wäre es, wie später überall anderswo, langsam ins rechte Geleise gekommen. Nur hatte man im Zweier keine Zeit mehr dazu, denn kurz darauf flog ja der halbe Komplex in die Luft, weil ein paar freizeitgestaltende Elemente versucht hatten, in der Chemiefabrik zu zündeln.
Für die Freizeitschule bedeutete es dagegen vielleicht Glück, daß das Experiment im Zweier ein vorzeitiges Ende fand, denn so konnte ich es nach abermaligen, tausenden Schwierigkeiten durchdrücken, daß wir den Versuch im Fünfer wiederholten.
Gewitzigt jedoch, wie wir waren, ließ ich am Tag der Einweihung der Heimcomputerstellen verkünden, daß wir im Fünfer leider vom Schicksal nicht so günstig betroffen waren, eine allgemeine Senkung der Arbeitszeit durchführen zu können. Wohl werde es weniger Arbeit geben und deshalb wären wir auch in der Lage, eine neue soziale Reform zu erbieten. Sollte Interesse dafür vorlliegen, könne man darum ansuchen, nur halbtags zu arbeiten und die andere Hälfte des Tages in der Freizeitschule - wir nannten sie aber hier Weiterbildungsförderungsinstitut - verbringen zu dürfen.
Natürlich wäre es unmöglich, allen diesen Vorteil zu gewähren, und deshalb würde man die verfügbaren Plätze denen zuteilen, die mit ihrem Ansuchen zuerst zur Stelle sein würden.
Es gab im Fünfer auch Aufläufe, doch jetzt vor der Magistratsabteilung, die von den Leuten fast niedergerissen wurde, um zuerst ein Formular für besagtes Ansuchen zu erhalten. Eine Woche später hatten fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung um einen Platz in der Freizeitschule eingereicht. Was übrig blieb zu tun, das war eigentlich nur, die "verfügbaren" Plätze langsam zu vergrößern, sodaß nach einem Jahr die gesamte Einwohnerzahl an der Reform teilhaben konnte. Die wenigen, die sich nicht um einen Platz bemüht hatten, durften weiterhin arbeiten wie bisher, nur daß sie eben manuell Arbeit erledigten, die der Computer in Bruchteilen der Zeit bewältigt hätte.
Im Fünfer hat es auch nie solche gewaltige Ausschreitungen gegeben, wie in den anderen Sektoren und wie im Land gemeinhin, bis auch dort die Freizeitschule in großen Kreisen Gehör fand. Logischerweise gab es im Fünfer auch einige Mitglieder der Intelligentia, die den Plan durchschauten und murrten, daß sie ihre Freizeit allein besser gestalten könnten. Letztendlich merkten aber auch sie, daß sie jetzt endlich Zeit dazu fanden, regelmäßig Schach zu spielen oder ihre literarischen Diskussionen zu führen.
Jedes Ding hat nämlich immer zwei Seiten, und es kommt ganz darauf an, welche davon man vorzeigt.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1996


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