DAS TAGEBUCH
DES HERAKLES

Prokne und Philomele


Vor uns machte sich Helios schon daran, mit seinem Sonnenwagen im Meer unterzutauchen. Wir hatten jedoch noch immer keinen Wind als Hilfe bekommen, sodass wir noch einen recht langen Weg bis Aisyme hatten.

Abderos war neben mir zusammengesunken und eingeschlafen. Kopfschüttelnd betrachtete ich seine unbequeme Stellung, die ihm aber nichts auszumachen schien, denn er schlief tief und ganz ruhig.

Ich unterhielt mich mit dem Steuermann über die Möglichkeiten, die wir jetzt hatten. Im Dunklen weiter zu rudern hatte ohne Zweifel seine Gefahren, aber ganz ohne Reserven an einem unbekannten Strand zu übernachten, war auch nicht das, was unser Schiffskommendant für wünschenswert hielt. Erstens würden wir Holz brauchen, zweitens auf die Jagd gehen müssen, um etwas zu essen zu haben. Aber drittens, und das fand der Schiffer als größtes Problem, war die Gegend zu unsicher, um eine Nächtigung vorzunehmen.

"Thrakien ist eben eine wilde Gegend", meinte er. "Man kann es nicht mit den mehr zivilisierten Regionen im Süden vergleichen, auch wenn es heute vielleicht nicht mehr ganz so schlimm ist, wie es unter König Tereus war - als hier wirklich nur das Gesetz des Stärkeren und das Faustrecht galten."

"Tereus?" Ich hatte diesen Namen noch nie gehört. "Wer war denn das?"

"Es ist ja schon eine ganze Weile her", gab der Steuermann zu. "Mein Großvater war noch jung, als er an den Hof von Tereus kam. Aber er hat mir selbst die schlimmen Geschichten erzählt ... Kein Wunder, dass ein wildes Land noch wilder wird, wenn der König eine Bestie ist."

Jetzt hatte er mich aber wirklich neugierig gemacht.

"Wer war denn dieser Tereus", fragte ich nochmals. "Und was hat er denn Furchtbares getan?"

"Kein Wunder, dass er wild war, der Tereus." Mein Gesprächspartner ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Er war ja schließlich ein Sohn des Ares. Kennst du die Geschichte von seiner Gattin Prokne und deren Schwester Philomele?"

Ich schüttelte den Kopf, begierig danach, eine neue Geschichte zu hören. Der Mann am Steuer wiegte bedächtig den Kopf, dann sagte er:

"Scheußlich, das alles. Gut, dass der Junge schläft, wenn du diese Geschichte hören willst."

Ich nickte eifrig, musste mich aber dennoch gedulden, bis der Mann umständlich das Steuer unter den anderen Arm geklemmt, sich dreimal geräuspert hatte und dann erst anfing zu erzählen.

"Also, das alles hat mir mein Großvater erzählt, als ich noch ganz klein war. Und auch damals war es schon lange her, weil mein Großvater zu dieser Zeit schon ein alter Mann war. Ich erzähle nur das weiter, was mein Großvater gesagt hat. Selbst bezeugen kann ich es nicht."

Ich versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl mir seine Umständlichkeit auf die Nerven ging. Aber, um den Mann zu beruhigen, lächelte ich ihm zu und nickte.

"Der König Tereus hatte einmal dem König Pandeon von Athen geholfen irgendeinen Streit zu schlichten. Was es für Streit war, wusste auch mein Großvater nicht genau. Er glaubte, dass es sich um einen Erbstreit handelte.
Aber, worum es auch immer ging, als Dank dafür bekam Tereus die älteste Tochter des Pandeon zur Frau. Sie hieß Prokne. Prokne war noch ein junges Mädchen, unschuldig und froh gelaunt. Mein Großvater traf sie, als sie zum ersten Mal an den Hof von Tereus kam.
Die gute Laune verging Prokne aber recht schnell, denn teils wurde sie von ihrem Gatten wie ein Dienstmädchen behandelt, teils kann man Thrakien nicht mit Athen vergleichen. Das Königspaar bekam auf jeden Fall einen Sohn, den sie Itys nannten. Aber auch das machte Prokne nicht fröhlicher, denn der König versuchte von Anfang an, ihr das Kind zu entfremden. Es war eher eine neue Plage für die junge Frau."

Der Steuermann schwenkte das Ruder scharf zur Seite, sodass wir einer vorspringenden Felsenklippe links ausweichen konnten. Erst als wir das steinerne Hindernis hinter uns gelassen hatten, sprach er weiter.

"Die fröhliche und muntere junge Frau verfiel zusehends, erzählte mir mein Großvater. Kein Wunder vielleicht, denn zu der schlechten Behandlung durch Tereus kam noch, dass sie sich am ganzen Hof fremd und unverstanden fühlte. Wer konnte sich aber hier auch Vorstellungen davon machen, wie es in Athen zuging? Das war doch für uns einfache und grobe Thrakier eine ganz andere Welt.
Prokne sehnte sich vor allem nach ihrer Schwester Philomele. Die beiden Mädchen hatten ihre gesamte Kindheit miteinander verbracht. Sie hatten zusammen gelacht und geweint, sie liebten einander so sehr, wie Schwestern einander nur lieben können. Eines Tages fasste Prokne all ihren Mut zusammen, denn den brauchte sie, um ihren Gatten um etwas zu bitten. Sie bat Tereus, doch einmal ihre Schwester besuchen zu dürfen. Tereus schlug natürlich ihre Bitte ab, denn er sah wohl ein, dass seine Frau nicht zurückkehren würde, wenn er sie gehen ließ. Verschlagen, wie er war, fügte er jedoch hinzu:

'In ein paar Wochen muss ich ohnehin nach Süden reisen. Schreibe einen Brief an deinen Vater, in dem du ihn bittest, dass Philomele dich besuchen kommen darf. Dann will ich sie auf ein paar Wochen hierher bringen.'

Prokne war glücklich, das war viel mehr, als sie erwartet hatte. Sie schrieb einen innigen Brief, den sie dann ihrem Mann auf die Reise mitgab. König Pandeon in Athen schöpfte auch keinen Verdacht, als er über die herzzerreißende Einsamkeit seiner Tochter las und willigte gern ein, dass Philomele auf Besuch nach Thrakien fuhr."

Der Steuermann hielt ein und hob die Hand über die Augen, weil er von dem Licht der fast schon im Meer versinkenden Sonne geblendet wurde.

"Bis Aisyme haben wir noch gute zwei Stunden", murmelte er dann vor sich hin. "In der Dunkelheit dauert es natürlich doppelt so lange."

Ich sagte nichts. Mir wäre es lieber gewesen, irgendwo am Strand zu landen. Mag sein, dass es eine unsichere Gegend war, aber ich hatte weniger Angst vor einer Räuberbande, als in der Finsternis gegen einen Felsen zu laufen und zu kentern. Aber ich war ja nur Passagier und meine Meinung hatte nichts zu sagen. Wenn der Schiffer weiterfahren wollte, musste ich mich wohl fügen.

"Tereus hatte jedoch etwas ganz anderes im Sinn", fuhr der Mann am Steuer jetzt mit der Erzählung fort. "Er hatte noch von seinem früheren Besuch in Erinnerung, dass Philomele ihrer Schwester an Schönheit nicht nachstand.
Als er nun bei der Rückfahrt etwa eine halbe Tagesreise von seinem Schloss entfernt war, wusste er einen abgelegenen Turm im Wald. Dorthin führte er die schöne Königstochter und vergewaltigte sie. Damit sie aber niemand erzählen könne, was vorgefallen war, schnitt er ihr auch die Zunge ab. Als er dann weiterzog, versprach er, bald wieder zu kommen, um sich an ihr zu erfreuen. Er ließ auch einen alten und einfältigen Diener zurück, der ihr aus dem nächsten Dorf Nahrung und Wasser besorgen sollte.
Daheim erzählte Tereus, dass Philomele auf der Reise von einem wilden Bären angegriffen und zerrissen worden sei, weil sie so töricht gewesen war, sich zu weit vom Lagerfeuer weg zu wagen. Prokne weinte sich die Augen aus über das schlimme Schicksal der Schwester und ihr Leben wurde noch bedauerlicher, als es jemals gewesen war. Ihren Sohn Itys sah sie inzwischen fast gar nicht mehr. Tereus verhätschelte ihn, lehrte ihn aber auch jede Bosheit, die er erdenken konnte. Die Aufsicht über den Jungen hatte er einer seiner Konkubinen übertragen."

Jetzt war die Sonne im Meer ertrunken und auch das Dämmerlicht nahm stark ab. Die Pausen in der Erzählung wurden nun immer länger, weil sich der Steuermann mehr und mehr auf die Umgebung konzentrieren musste. Trotzdem begann er nach einer Weile wieder zu sprechen.

"Philomele war indessen nicht untätig. Sie war wohl verzweifelt und fürchtete jeden Tag, dass Tereus sie wieder einmal besuchen kam, aber sie hatte genug Lebenswillen, um nicht aufzugeben. Sie stellte sich zwei Aufgaben, die beide nicht leicht waren. Erstens versuchte sie, den törichten Diener eine Art von Zeichensprache zu lehren. Das dauerte lange Zeit, denn der Mann war nicht nur dumm, sondern auch uninteressiert. Aber nachdem Philomele nicht mehr sprechen konnte, war dies die einzige Möglichkeit, sich verständlich zu machen. Es spielte keine Rolle, dass es lange dauerte, denn auch ihr zweiter Vorsatz war ein langwieriges Unternehmen. Sie trennte ihre Kleidung auf und wob daraus einen Schleier. In diesen Schleier wob sie auch ihre ganze Geschichte hinein.
Als sie endlich ihre mühsame Arbeit abgeschlossen hatte, hatte sie auch den Diener so weit gebracht, um ihm verständlich zu machen, dass er den Schleier der Königin bringen solle. Und nachdem der Diener sehr einfältig war und natürlich auch nicht lesen konnte, tat er ...

"Scharf links", schrie plötzlich der vorderste Ruderer. "Liiinks!"

Gleichzeitig versuchte er, mit eingetauchtem Ruder das Boot zu bremsen und nach links zu steuern. Gleich darauf zeigte uns ein böses Kratzen am Rumpf, wie nah daran wir gewesen waren, auf eine Sandbank oder noch Schlimmeres aufzulaufen. Aber unser Schiff blieb flott und auch der Rumpf war dicht geblieben. Nach einer kurzen Schreckenspause begannen die Schiffer wieder zu rudern, nun allerdings noch langsamer als zuvor. Und nach einer Weile bekam ich auch meine Geschichte fertig zu hören, wenngleich jetzt nur mehr satzweise.

"Der Diener brachte also den Schleier zu Prokne, die, bestürzt und erleichtert zugleich, sofort wegrannte, um ihre Schwester zu befreien. Die beiden Schwestern schworen Rache auf dem Rückweg zum Schloss. Sie wollten Tereus das Liebste nehmen, das er hatte. Deshalb schnitten sie in der Nacht Itys die Kehle durch und brieten ihn dann über offenem Feuer. Am Morgen servierte Prokne ihrem Gemahl den gemeinsamen Sohn zum Frühstück. Als Tereus fertig gegessen hatte, betrat auch Philomele den Raum und warf ihm den Kopf seines Kindes zu.
Zuerst saß Tereus wie versteinert, was die beiden Frauen ausnützten, um die Flucht zu ergreifen. Dann aber sprang er mit einem wilden Schrei auf und begann die Verfolgung. Als er die Schwestern schon beinahe eingeholt hatte, flehten diese die Götter an, sie zu retten. Und ein Gott hatte Erbarmen.
Prokne verschwand als Nachtigall in die Lüfte, Philomele aber, weil sie ja nicht singen konnte, wurde zur Schwalbe."

Während dem Rest des Weges saß ich schweigend und dachte über die Geschichte nach. Mir gefiel sie nicht. Wohl vergönnte ich Tereus das schreckliche Erlebnis und wohl verstand ich den Rachedurst der Schwestern - aber was konnte das Kind dafür? Die Schwestern hatten es trotz allem bei vollem Verstand und vorsätzlich ermordet. Wie konnte ihnen dann einer der Götter, wer immer es gewesen sein mochte, die Gunst gewähren, sie in Vögel zu verwandeln. Wie würde ich mich jemals wieder am Gesang der Nachtigall oder am Flug der Schwalbe erfreuen können? Es wäre gerechter gewesen, die Erinnyen auf sie zu hetzen und Tereus zu ewiger Qual zu verdammen. Aber andererseits - wo gibt es schon Gerechtigkeit auf dieser Welt?


© Bernhard Kauntz, Västerås 2005


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