SAGEN UND MÄRCHEN FÜR ERWACHSENE

NOCH NICHT


Wissen Sie, was Angst ist? Ich meine nicht die lächerliche Beklommenheit vor dem Besuch beim Zahnarzt, oder die Furcht, im Aufzug steckenzubleiben. Nein. Ich meine kalte, nackte, schreiende Angst, wenn Sie nahezu irr werden, kaum mehr fähig sind, einen klaren Gedanken zu fassen. Nun, ich habe sie erlebt, und ich wünsche - wie man so schön sagt - meinem ärgsten Feind nicht, diese Stunden erleben zu müssen.
Es begann mit der Angst ums Leben, diese konnte man ja noch verstehen, man hatte einen Widersacher, etwas Greifbares, wovor man Angst haben konnte.... Aber lassen Sie mich vom Anfang an erzählen.
Wir hatten Urlaub - meine Schwester Renate, ein Freund von mir, Georg, der inzwischen ihr Verlobter geworden ist, und ich. Wir hatten beschlossen, unsere Ferien in Nordschweden zu verbringen, so einsam wie möglich, um uns von dem Alltagsleben der Großstadt richtig zu erholen.
Eigentlich war es Renate gewesen, die die Idee gehabt hatte. Sie hatte vor etwa zehn Jahren, in dem Alter in dem alle Teenager Brieffreundschaften beginnen, angefangen einer Schwedin zu schreiben. Und diese Schwedin, sie heißt übrigens Gunnel, wohnt im nördlichen Nordschweden, dort wo es überhaupt nur mehr Natur gibt. Selbst der Mensch ist dort ein Teil der Natur geworden, unbeeinflußt vom Kursfall des Dollars oder von der politischen Lage im Nahen Osten.
Vor einigen Jahren war Gunnel zu Renate in die Stadt auf Besuch gekommen und seither hatte sie in ihren Briefen ununterbrochen darauf gedrängt, daß wir doch auch sie besuchen kommen sollten. Und nun bot sich endlich die Gelegenheit. Wir fuhren mit dem Wagen hinauf, ein ganz schönes Stück, nebenbei gesagt, aber wir wechselten uns alle drei am Steuer ab und es ging einigermaßen.
Wohl in die Nähe gekommen, mußten wir uns das letzte Stück des Weges durchfragen, denn Gunnel wohnte bei ihren Eltern auf einem kleinen Bauernhof, ein paar Kilometer außerhalb des letzten Dorfes und somit fast am Ende der Welt. Sogar die Landstraße hörte ein Stück hinter dem Gehöft auf.
Gunnel war ein recht hübsches Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit rabenschwarzem Haar (in Schweden!) und hochliegenden, ein wenig hervorstehenden Backenknochen. Hier mußte wohl ein teilweises Erbe der samischen Nomadenbevölkerung vorliegen, die ja ein ganz anderes Aussehen hat als der skandinavische Typ allgemein.
Wir waren schon ein paar Tage zu Gast gewesen, waren freundlich bewirtet worden und fühlten uns in jeder Weise wohl. Am Tag machten wir Ausflüge in die Wälder, hockten auf dem Eis des nahegelegenen Sees und versuchten durch Löcher, die wir ins Eis gebohrt hatten, ein paar Fische zu fangen. Fischen ist an und für sich kein Sport für mich, und schon gar nicht für meine Schwester, die ein ungeheures Temperament besitzt. Aber Sie glauben gar nicht, wie erholsam eine solche Tätigkeit, die ja nur aus warten besteht, sein kann. Abends saßen wir alle zusammen in der großen Küche des Bauernhauses und hörten dem Harmonikaspiel des Hausherrn zu, oder wir saßen einfach da und plauderten. Letzteres war gar nicht so einfach, denn wenn ich zum Beispiel Gunnels Mutter zu verstehen geben wollte, daß mir das gekochte Elchfleisch als Mittagessen vorzüglich schmeckte, mußte ich es erst meiner Schwester mitteilen, die gerade ein paar Brocken Schwedisch spricht. Sie ihrerseits leitete mein Lob an Gunnel weiter, die genauso ein paar Worte Deutsch kann, sodaß es mit den gemeinsamen Kenntnissen gerade reicht, ein Gespräch zu führen. Aber damit war es ja noch nicht genug. Gunnel mußte nämlich schließlich ihrer Mutter übersetzen, die nur einen Dialekt sprach, der mit dem Schwedischen sehr wenig zu tun hatte.
Vielleicht ist es deshalb verständlich, daß das "plaudern" sich auf ziemlich einfache Dinge beschränkte, dagegen das Einanderzulächeln einen wesentlichen Platz in unserer Unterhaltung hatte.
Lassen Sie mich hier einfügen wie sehr die Umgebung auf die menschliche Psyche einwirkt. Durch diese Abgesondertheit, durch diese Stille und Naturverbundenheit merkt man schon nach zwei, drei Tagen, daß man ruhiger wird. Die Bewegungen werden langsamer, die Nerven sind nicht mehr so überreizt durch die Hektik des Großstadtalltags, ja sogar auf das Denkvermögen wirkt sich diese Einsamkeit aus. Man denkt auch langsamer, aber viel klarer, die Gedanken jagen einander nicht wie im Berufsstreß, sondern sie nehmen sich Zeit, hervorzutreten, bis man ein vollkommenes Bild davon hat, woran man eigentlich denkt. Das seinerseits führt dazu, daß man die Gedanken mehr in sich hineinrichtet, sich selbst kennenlernt. Und glauben Sie mir, daß man da auf interessante Dinge stoßen kann. So wußte ich bis dahin nicht, daß ich, als Rechtshänder, grundsätzlich mein Hemd mit der linken Hand zu-, mit der rechten aber aufknöpfe. Aber auch andere Dinge, draußen im Freien, bekommen ein anderes Format. Wenn ich zum Beispiel an die Christbäume denke, die ich in den letzten Jahren ausgesucht habe, habe ich da wohl an die grobe Form des Baumes gedacht, damit er einen guten Eindruck mache, wenn er dann geschmückt im Zimmer stand; noch nie aber war mir die Vollkommenheit eines Tannenzweiges so klar gewesen, wie damals. Die Dinge wurden größer, wirklicher, auf irgendeine unerklärliche Art.
Aber zurück zu dem Tag, als wir vier, Gunnel, Renate, Georg und ich, wie schon so oft, aufbrachen, um auf den Skiern eine Spazierfahrt durch den Wald zu machen. Wir hatten zwar schon Mitte April überschritten, aber der Schnee lag noch meterhoch, ja die Schneeschmelze hatte noch kaum begonnen. Die Sonne stand recht tief am Himmel, auch ohne richtig warm zu sein. Sie wärmte ein wenig, ja, aber während man durch die Windjacke auf der Brust eine laue Decke spürte, fror man im Rücken noch immer.
Die Skier waren nicht derbe, breite Alpinskier, wie wir es gewöhnt waren, sondern es waren schmale Bretter, sodaß die Schuhe auf beiden Seiten weit hinausragten, und die Bindung war eine Sache für sich. Man schob nur die Spitze der Schuhe hinein und zog sie dann mit einem Stahlriemen um den Absatz an. Der Absatz hingegen war unbefestigt, damit man ihn bei jedem Schritt hochheben konnte.
Nach ein paar Tagen hatten wir den Dreh aber einigermaßen heraußen gehabt, und deshalb zogen wir nun, wie gewöhnlich, früh am Nachmittag los, um ein paar Stunden im Wald zu verbringen.
Wir mochten vielleicht zwei Stunden unterwegs gewesen sein und dachten gerade daran, in einem leichten Bogen zurückzukehren, als wir zu einer Lichtung kamen, an deren rechten Rand eine alte, vergessene Holzhütte stand.
Georg war gerade an der Spitze unseres Zuges, dann folgten die beiden Mädchen und ich machte den Abschluß. So war es mir aufgefallen, daß Gunnel in der letzten Viertelstunde ein wenig unruhig geworden war. Sie sagte nichts, und ich weiß bis heute noch nicht, wie ich es gemerkt hatte, Vielleicht waren es meine damals geschärften Sinne, die mich darauf aufmerksam gemacht hatten.
Wir wollten mitten über die Lichtung fahren und waren ein gutes Stück vom Waldrand weg, als Georg vorne plötzlich stehenblieb.
"Was ist denn das", rief er und zeigte mit dem Skistab nach vorne, zur anderen Seite der Lichtung. Ein dunkles Etwas kam dort aus dem Wald herausgetrottet.
"Ein Bär!" Meine Schwester war in der Bewegung erstarrt. Es dauerte ein paar Sekunden, dann beugte sie sich hinunter und befreite ihre Beine von den Bindungen. Sie war anscheinend noch nicht sicher genug auf den Brettern und wollte vermutlich ohne sie davonlaufen.
"Weg, schnell", rief Gunnel.
"Dort - zur Hütte", schrie Georg und war schon unterwegs dahin.
Renate hob den zweiten Fuß aus der Bindung - und versank bis zum Knie im Schnee. Der Bär hatte sich verwundert aufgerichtet, stand jetzt auf den Hinterbeinen und sah zu uns herüber.
Gunnel kam mir entgegen, bleich wie Wachs. Ich deutete auch zur Hütte und schrie:
"Dorthin!"
Aber sie schüttelte verkrampft den Kopf.
"Nein, nicht dort. Dort es spuckt."
Sie sagte "spuckt" und ich brauchte wieder wertvolle Zeit zum Begreifen.
"Ach, Spuk, komm doch jetzt, das ist ja lächerlich!" Ich fing sie beim Arm, als sie an mir vorbeifahren wollte. Gleichzeitig warf ich einen Blick hinüber zum Waldrand. Der Bär stand noch immer dort, unschlüssig, wie es mir schien. In den Augenwinkeln fing ich auch Georg ein, der zurückgekommen war und meine Schwester aus dem Schnee zog. Gunnel war verdammt zäh, und ihre Angst verlieh ihr noch Extrakräfte. Einen Augenblick lang dachte ich daran, sie laufenzulassen. Aber dann dachte ich, daß sie allein mit dem Bären wäre, denn uns anderen war es unmöglich, auf den unsicheren Skiern ein Wettrennen zu veranstalten. Wir mußten ganz einfach zur Hütte. Außerdem brauchten wir Gunnel ja auch für den Rückweg, um nach Hause zu finden. Ich hielt sie also mit beiden Händen umklammert, wir schlugen uns mit den Skistecken herum und sahen uns mit verzerrten Gesichtern an. In ihrem konnte ich Panik lesen.
Ich versuchte, nach dem Bären zu sehen, aber sie gab mir keine Chance. Sie schlug und stieß mich mit Armen und Knien, ich war vollauf beschäftigt mein Gleichgewicht zu behalten. Trotzdem ließ ein unbedachter Griff von mir uns beide der Länge nach in den Schnee fallen. Plötzlich fiel ein Schatten über uns. Gunnel schrie und schlug noch immer verbissen. Mir stand das Herz still. Der Bär!
Aber es war nur Georg, der kräftig gestikulierend herankam. Er meinte wohl, daß wir verrückt geworden seien. Aber mein Freund ist ein kluger Kopf, auf den man sich verlassen kann. Ich weiß nicht, ob er begriff was sich abspielte, oder ob es nur deshalb war, daß er mich schon länger kannte als Gunnel. Auf jeden Fall packte er zu, und gemeinsam brachten wir zuerst mich und dann auch Gunnel auf die Beine.
Als ich endlich aufsehen konnte, sah ich Renate der Hütte zufahren, so schnell es eben ging. Der Bär war noch immer am Waldrand, aber jetzt hatte er sich wieder auf alle vier Pfoten niedergelassen und kam, den Kopf zwischen den Vordertatzen baumelnd, jetzt langsam in Trab. Auf uns zu!
Ich war noch nie gut im Schätzen, aber von uns aus mochten es etwa fünfzig Meter bis zur Hütte sein, bis zum Bären vielleicht doppelt so weit.
Georg und ich hatten jetzt Gunnel auf beiden Seiten fest unter den Arm gehakt und schliffen sie nun - sie sträubte sich noch immer - verzweifelt der Hütte zu. Renate war schon fast dort. Und der Bär war ein gutes Stück vom Waldrand weggekommen. Ich schrie auf und vervielfältigte meine Anstrengungen. Jeder Schritt kostete Kraft, aber wir kamen näher. Der Bär auch. Ich sah die ersten roten Kreise vor den Augen, als Gunnels Widerstand endlich erschlaffte. Jetzt hing sie in unseren Armen, und das Vorwärtskommen war plötzlich viel einfacher.
Die Tür zur Hütte öffnete - Gott sei Dank - nach innen und war, wie die meisten Türen hier in der Gegend, unverschlossen. Aber sie war einen Spalt offen gestanden und Schnee hatte hineingeweht. Ich sah, wie Renate mit Händen und Füßen den Schnee wegfegte, damit man die Tür schließen könne. Uns fehlten vielleicht noch fünfzehn Meter. Ich wagte einen Blick nach links. Der Bär kam uns entgegen wie ein D-Zug.
Mir fiel ein, daß ich als Kind in der Straßenbahn immer vorne beim Fahrer gestanden hatte, und jedesmal, wenn uns in einer Kurve ein anderer Zug entgegenkam, das Gefühl gehabt hatte, daß wir zusammenstoßen müßten. Aber im letzten Augenblick schwenkten dann die Wagen ab und glitten aneinander vorbei. Jetzt hatte ich dasselbe Gefühl, viel stärker nur, und der Bär würde wohl kaum abschwenken. Zehn Meter noch. Fünf. Ich wagte es nicht, zurückzusehen, jeden Augenblick mußte uns das Tier über den Haufen rennen. Mein Herz klopfte nicht mehr, es zersprang bei jedem Schlag. Ich dachte an die verrücktesten Dinge, die ich je erlebt hatte. An Situationen aus meiner Schulzeit, an unser Sommerhaus - die Gedanken wirbelten im Kreis in meinem Kopf, ich dachte nicht eigentlich, es war als ob meine gesamte Erinnerung plötzlich freigelassen worden wäre.
Ich weiß nicht, wie wir es schafften, obwohl ich die letzten paar Meter wohl kaum jemals vergessen werde. Ich stieß mit den Skispitzen gegen die Hüttenwand, es riß mich nach vorne, und ich lag schon wieder im Schnee. Als ich, desorientiert, wieder hochkam, stand die Bestie vor mir. Hochaufgerichtet, riesengroß stand das Untier da, mit den Pranken fast ein wenig tollpatschig durch die Luft rudernd. Das zottige Fell war vorne am Bauch ein wenig durchnäßt, sodaß es in Büscheln zusammenklebte.
Mit einer Hand nach hinten tastend, stieß ich die andere mit dem Skistab vor, dem Bären entgegen. Wie ein Zündholz wischte er mit einem Hieb den Stecken zur Seite, tappte noch einen Schritt näher, und plötzlich sah ich den todbringenden Schlag der anderen Pranke von oben auf mich herabsausen. Ich wollte mich wegducken, ich wußte, es mußte mir gelingen, aber ich konnte es nicht. Die großen, braunen Augen des Bären glitzerten mich boshaft an.
Da wurde ich nach hinten gerissen. Ich spürte den Luftzug, als die Pranke fast mein Gesicht streifte. Taumelnd sah ich, daß Georg abermals zur Stelle gewesen war. Ich flog rücklings durch die Tür in die Hütte hinein, hörte etwas krachen und splittern, dann lag ich am Boden.
Gunnel hatte anscheinend wieder ihre Vernunft zurückgewonnen, denn sie stemmte sich zusammen mit Renate gegen die Tür, während Georg versuchte, ein schweres Holzbett vor den Eingang zu schieben, um ihn damit zu blockieren.
Mühsam rappelte ich mich auf. Ich hatte mir beim letzten Sturz den rechten Ellenbogen angeschlagen, meine Lungen schmerzten wie mit tausend Nadeln gestochen und in den Beinen hatte ich nur noch Marmelade. Ich hockte mich trotzdem auf. Als ich die Bindungen öffnen wollte, sah ich, daß die Spitze meines linken Skis abgebrochen war. Ich wußte nicht, wann das geschehen war. Später erzählte mir Georg, daß der Ski sich in der Tür verspreizt hatte, "weil du es so eilig hattest, hineinzukommen", wie er betonte.
Er hatte jetzt das Bett vor die Tür bekommen und ließ sich erschöpft darauffallen. Draußen krachte es. Durch das kleine, vierteilige Fenster, dessen eine Scheibe zerbrochen war und nur mehr zur Hälfte im Rahmen hing, sahen wir Holzsplitter durch die Luft fliegen. Offenbar hatte der Bär einen Prankenhieb gegen das niedrige, morsche Dach getan.
Ich löste die Bindungen von meinen Schuhen und dann fiel ich um. Ich wurde nicht bewußtlos, aber ich war ganz passiv, wie ein Zuschauer, ohne beteiligt zu sein. Ich hörte, wie ich mit den Zähnen klapperte, mein ganzer Körper schüttelte sich, jeder Muskel zuckte einzeln, über den Rücken lief mir abwechselnd ein heißes Brennen und eine Gänsehaut. Die Schweden haben einen Ausdruck für diesen Zustand. "Bärenfrösteln" nennen sie es.
Erst als meine Schwester aus Georgs Rucksack ein gepriesenes Fläschchen Rum hervorholte und mir den Inhalt zwischen den scheppernden Zähnen durchrinnen ließ, wurde ich langsam wieder ich selbst. Mit ihrer Hilfe kam ich hoch und fiel neben Georg auf die Bretter des Bettes. Georg lehnte, mit dem Kopf an der Tür, mit geschlossenen Augen neben mir; Gunnel kauerte verschreckt neben dem Bett in der Ecke und Renate stand still beim Fenster und sah hinaus.
Es war ziemlich düster in dem kleinen Raum, dem einzigen, soviel ich sehen konnte. An der einen Längsseite stand ein Schrank auf drei wackeligen Beinen, durch dessen offene Türen wir sehen konnten, daß er nichts beinhaltete. Davor stand ein Tischchen, auf dem eine halbe Kerze als einzige Dekoration lag. Die Wände bestanden aus groben Holzstämmen und im Kamin lagen ein paar halbverkohlte Scheite.
"Daß ausgerechnet wir einem Bären begegnen müssen", unterbrach Renate das Schweigen, aber keiner von uns hatte den nötigen Geist, um ihr zu antworten. Vielleicht erübrigte sich eine Antwort auch, denn sie hatte recht. Natürlich gab es Bären in Schweden und natürlich kam es auch dann und wann vor, daß ihnen ein Mensch begegnete, wenn auch selten. Aber daß das Ungeheuer dann angriff, das gehörte zu den Ausnahmen. An einem Abend hatten wir bei Gunnels Eltern die Frage zur Sprache gebracht, und ihr Vater hatte gemeint, daß normalerweise sowohl Mensch wie Bär froh waren, ungeschoren davonzukommen. Aber vielleicht hatte unser Geschrei den Bären irritiert, sodaß er angriffslustig geworden war. Vielleicht war es auch eine Bärin, die nach dem Winterschlaf gerade ihren Jungen geboren hatte und deshalb besonders reizbar war.
Georg öffnete die Augen und setzte sich auf.
"Gib mir bitte einmal die Flasche her, Renate." Er streckte die Hand aus und machte dann einen langen Zug.
"Ah, jetzt ist mir leichter", sagte er daraufhin aufseufzend. Dann sah er Gunnel an.
"Was war denn eigentlich mit ihr los?" Er fragte mich, aber bevor ich ihm noch antworten konnte, sprach Gunnel aus ihrer Ecke. Ihre Stimme zitterte ein wenig.
"Wir wegmüssen. Hier es spuckt."
Auch Georg war einen Augenblick lang verblüfft. Dann lachte er trocken.
"Aha. Und wegen dem Spuk wolltest du dich lieber mit dem Bären anlegen? Spuk, ha! Wir werden schon sehen, wer hier weiter spuckt!"
Gunnel sah ihn ängstlich und verständnislos an.
"Wir wegmüssen!" Sie wiederholte es mit Nachdruck.
"Das wird kaum möglich sein, so lange das Vieh hier ums Haus läuft", meinte Renate achselzuckend vom Fenster her. Dann wurde sie wütend.
"Kschsch, weg mit dir, du Vieh, du großes", schrie sie zu dem Bären hinaus.
Nach einer Weile begann sie mit ihrer Freundin auf Schwedisch zu sprechen. Sie schüttelte mehrmals ungläubig den Kopf und sprach in einem überredenden Ton zu ihr. Schließlich wandte sie sich an uns und erklärte, noch immer kopfschüttelnd:
"Sie meint, sie wisse nicht, was hier spukt. Sie sagt, alle wüßten, daß es hier unheimlich ist und daß es hier geistert. Sie sagt, wir müssen unbedingt weg bevor es Abend wird.
"Von mir aus gern, wenn wir nur können", mischte ich mich schließlich ein. "So gastlich ist es hier ja nicht gerade. Aber mir sind zehn Geister lieber als der Bär da draußen. Und bevor ich nicht weiß, daß der Kerl meilenweit weg ist, nehme ich es mit jedem Gespenst auf."
So also sprach ich am späten Nachmittag, und Georg nickte beistimmend.

Als der Schock ein wenig abgeklungen war, stießen wir auf ein anderes Problem.
"Sagt mal, hat jemand von euch Zigaretten mit", fragte meine Schwester plötzlich. Ich nickte und griff in die Tasche. Nichts. Leer. Ich zuckte mit den Schultern.
"Georg, hast du welche? Meine müssen irgendwo draußen im Schnee liegen."
Mein Freund hatte die Schachtel schon in der Hand, aber als er sie öffnete, waren ganze zwei Zigaretten drinnen. Und obwohl ich bisher gar nicht an Zigaretten gedacht hatte, spürte ich jetzt plötzlich ein heftiges Verlangen zu rauchen. Den anderen ging es natürlich ebenso, außer Gunnel, sie rauchte nicht. Außerdem saß sie noch immer still und abwesend in ihrer Ecke. Wir beschlossen, eine Zigarette gemeinsam zu rauchen. Georg zündete sie andächtig an, machte zwei tiefe Züge und gab sie an Renate weiter. Als ich, drei Runden später, den Stummel abdämpfen wollte, schrie Renate mich an:
"Bist du verrückt geworden? Da ist mindestens noch ein Zug drauf!"
Halb belustigt gab ich ihr den Rest der Zigarette, zur anderen Hälfte bedauerte ich selbst, daß unsere Ration nicht größer war.
Der Bär drehte Runden um das Haus. Ich hatte jetzt meine Schwester am Fenster abgelöst und sah ihm zu. Dabei hütete ich mich, zu nahe ans Fenster zu treten, um mich aus seinem Blickfeld zu halten. Daß er es nicht müde wurde, uns zu belagern.
Jetzt war es halb vier. Kurz nach sechs wurde es dunkel. Der Weg nach Hause dauerte sicher gute zwei Stunden, vielleicht ein bißchen weniger, weil uns die Angst vor dem Bären bestimmt anspornte. Andererseits waren meine Ski kaputt. Mit mathematischer Präzision errechnete ich, daß uns noch etwa eine halbe Stunde blieb - dann mußten wir aufbrechen, oder hier übernachten. Der Gedanke an letzteres war nicht gerade angenehm, aber ich versichere Ihnen, daß es der Unbequemlichkeit wegen war, und nicht weil es "spuckte". Ich grinste in mich hinein, als ich mir Gunnels Panik vor die Augen rief. Mensch, oh Mensch, und das im zwanzigsten Jahrhundert.
Während ich so vor mich hinphilosophierte, verschwand plötzlich der Sonnenschein. Ich beugte mich jetzt doch ein wenig vor und sah, daß tief am Horizont, denn die Sonne stand kaum höher, dunkle Wolken standen, die sich vor unseren Stern geschoben hatten.
Um fünf wartete der Bär noch immer auf uns, die Wolken hatten den ganzen Himmel bedeckt und es dämmerte leicht. Renate meinte in ihrer praktischen Art:
"Ich habe Hunger."
"Ich auch", meldete Georg. "Was meint ihr zu Bärenkeule? Wir brauchen sie nur zu holen."
Uns war nicht zum Lachen zumute. Meine Schwester zauberte eine Tafel Schokolade aus ihrem Anorak. Das war alles, was wir hatten. Wir nahmen jeder ein Stück und lutschten daran so lange es ging.
"Wir wegmüssen. Schnell." Gunnel behauptete es von Zeit zu Zeit, wir hatten uns schon daran gewöhnt. Wir wechselten uns ab und deuteten zum Fenster, das war Antwort genug.
Zehn vor halb sechs begann es zu schneien und es dämmerte schon ziemlich stark. Die Schneeflocken fielen sachte und sanft, schaukelten ein wenig in der Luft und legten sich schließlich zur Ruhe. Auf der Erde, auf den Ästen der Bäume - und auf dem Pelz des Bären.
Ein wenig später war es fast dunkel und der Schnee kam etwas dichter. Ich weiß nicht was die anderen dachten, aber spätestens um sechs hatte ich mich damit abgefunden, daß wir über Nacht bleiben mußten. Bis dahin hatte ich wenigstens noch immer gehofft, unnötigerweise zwar, denn was für Mirakel hätte uns aus der Patsche helfen können - aber es war immer ein Lichtschimmer dagewesen, der nun erlosch.
"Na, essen wir noch ein Stück Schokolade, oder bieten wir sie dem Geist an", fragte ich in die Runde.
Gunnel sah mich erschrocken und böse an.
"Du dürfen nicht sagen so." Es war erstaunlich, wieviel Deutsch sie konnte, wenn es galt. Ich zwinkerte ihr zu, und sie drehte den Kopf weg.
Wir saßen jetzt alle zusammen auf dem Bett, aneinandergerückt, um ein wenig Wärme zu behalten. Obwohl wir dicht beisammen saßen, die beiden Mädchen in der Mitte, konnten wir einander nur mehr schwer sehen, so dunkel war es schon. Ein leichter Wind hatte eingesetzt, es zog durch die kaputte Fensterscheibe. Wir hatten keine Ahnung, ob der Bär noch da war, oder nicht.
Gunnel, neben mir, begann ein Gespräch auf Schwedisch mit meiner Schwester. Renates Antworten klangen zuerst beruhigend, dann wurden sie je um eine Nuance schärfer. Schließlich suchte sie unsere Hilfe.
"Gunnel meint, sie fände den Weg auch im Dunkeln, wir sollen versuchen heimzukommen."
"Das ist doch Irrsinn!" Ich war ein wenig gereizt und es hörte sich ungehaltener an, als ich es wollte.
"Ausgeschlossen", fügte Georg hinzu. "Wir wissen doch nicht einmal ob das Vieh noch da ist."
Gunnel fügte sich, aber ich merkte, daß ihre Glieder steif und gespannt waren. Ich tastete nach der Rumflasche und schickte sie zu den anderen. Als ich sie zurückbekam, machte ich noch einen kleinen Schluck. Der Neigung meines Kopfes nach, beim Trinken, war nicht mehr viel drinnen. Sehen konnte ich nichts mehr.
Dagegen hatte der Wind an Stärke zugenommen, wir hörten ihn jetzt schon an einigen losen Brettern am Dach rütteln. Ich hörte, daß Georg aufstand, aber ich war zu müde, um zu fragen, was er vorhatte. Anscheinend versuchte er, die Öffnung im Fenster abzudichten, aber es war mir an und für sich egal. Ich war totmüde und das Klappern am Dach wirkte sogar einschläfernd. Sogar Gunnels Atemzüge neben mir waren gleichmäßiger geworden. Natürlich vom Rum, dachte ich träge. Dann mußte ich eingeschlafen sein.

Mein Arm zuckte. Nein, nur die Schulter zuckte, ich hatte keinen Arm mehr. Das spielte auch keine Rolle. Meine Schulter zuckte weiter. Was? Wieso hatte ich keinen Arm mehr? Das spielte schon eine Rolle. Ich war jetzt halbwach. Meine Schwester bewegte meinen Arm wie einen Pumpenschwengel. Ich war müde.
"Laß mich in Ruhe", knurrte ich. Sie ließ mich nicht in Ruhe.
"Wach auf, Kreuzdonnerwetter! Willst du erfrieren?"
Erfrieren. Mir war nicht kalt, ich war nur müde. Ich blinzelte. Warum konnte ich eigentlich sehen? Jetzt war ich endlich einigermaßen wach. Die halbe Kerze stand auf dem Tischchen, jemand hatte sie angezündet. Ich hob den Kopf. Der Schmerz im Nacken weckte mich ganz. Ich war zu lange in der unbequemen Stellung gelegen und jetzt war ich ganz steif.
"Du mußt dich bewegen", sagte meine Schwester und ließ meinen Arm los. Er fiel ohne Halt hinab. Georg machte Kniebeugen, drüben beim Kamin. Gunnel massierte ihre Füße. Sie hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und spielte mit ihren Zehen. Sie hatte zierliche Füße, mit wohlgepflegten Zehennägeln.
Mit einiger Mühe gelang es mir, die Finger meiner Hand zur Faust zu ballen. Wieder und wieder öffnete und schloß ich die Hand, bis ich endlich das Gefühl zurückbekam. Draußen heulte und pfiff der Wind um die Hütte, es mußte ein ziemlich kräftiger Sturm geworden sein. Schön langsam nahm ich meine Gliedmaßen der Reihe nach vor und massierte sie, beugte sie, bis das Blut wieder warm durch den ganzen Körper floß. Wir sprachen nicht. Erstens hätte es zuviel Mühe gemacht, zweitens gab es nichts zu sagen und drittens waren wir wohl alle dankbar dafür, daß wir noch rechtzeitig erwacht waren. Ich sah auf die Uhr. Halb zehn vorbei. Du liebe Zeit, die ganze Nacht lag noch vor uns. Draußen riß der Wind an den Brettern, als ob er unseren Schutz zerlegen wolle, um uns den Naturkräften bloß entgegenzustellen. Ich fühlte mich isoliert, weit weg von der Welt, als schwebten wir in einem Raumschiff irgendwo im All. Ich spürte eine Zärtlichkeit in mir aufsteigen, zu den anderen. Sie waren alles, was ich hatte. Ich setzte mich wieder zu Gunnel auf meinen Platz und lächelte ihr zu. Sie war bleich, aber ruhig.
"Ich habe Angst", sagte sie. Ich legte meinen Arm um sie, um sie zu trösten, aber auch um selbst nicht so allein zu sein. Renate löschte die Kerze aus, von der wieder ein Stück verbrannt war. Ich hatte jetzt Mitleid mit der schwarzhaarigen Schwedin, mein Spott und die Geringschätzigkeit des Nachmittags waren verflogen.
"Ach, du brauchst keine Angst zu haben, wir schaffen es schon." Leise sprach ich auf sie ein. Ich sagte ihr, daß wir am Morgen sicher gut heimkommen würden, daß ich sicher war, daß es keinen Spuk gäbe, sondern alles seine natürliche Erklärung habe. Ich sprach drauflos, ruhig und flüsternd. Wahrscheinlich verstand sie die Hälfte nicht, aber sie entspannte sich ein wenig, und mir tat es auch gut diesen Kontakt zu haben.
Die Zeit schlich dahin. Ich ertappte mich dabei, daß ich innerhalb von fünf Minuten dreimal auf das Leuchtzifferblatt meiner Uhr gesehen hatte. Nur der Sturm zerrte an allen Stöcken der Hütte und heulte hohl in den Winkeln.
Um halb elf opferten wir wieder ein paar Minuten unserer Kerze, um aufstehen und umhergehen zu können. Danach rauchten wir unsere letzte Zigarette im Dunkeln.

Was nun folgte, ist unbeschreibbar, unerklärlich. Wissen Sie, ich bin bestimmt kein Hasenfuß, wenn ich auch nicht gerade das Schicksal herausfordere, um meinen Mut beweisen zu müssen. Aber in dieser Nacht war es kein Zeichen von Feigheit, wenn man die Nerven verlor. Ich bin ein an und für sich aufgeklärter Mensch, ohne Züge zum Romantizismus und ich setze mich unbedingt dafür ein, daß man schwer erklärliche Dinge untersuchen muß, analysieren kann, und dann dafür auch eine natürliche Erklärung finden muß. Nach dieser Nacht war ich aber bereit einzuräumen, daß es wahrscheinlich Gebiete gibt, die außerhalb unserer physikalischen Welt liegen, für die wir noch keine Forschungsgrundsätze haben.
Es begann kurz nach elf Uhr. Ein besonders kalter Lufthauch strich an meinem Gesicht vorbei. Die anderen hatten es wohl auch gespürt, denn Gunnel ergriff fest meinen Unterarm, um sich daran festzuhalten, und Georg sagte:
"Menschenskind, jetzt bläst es hier schon gerade durch."
Und so verwunderlich wäre es wohl nicht gewesen, denn der Sturm artete sich zum Orkan aus. Ich hoffte, daß die morschen Bretter noch Kraft genug hatten, dieser Herausforderung der Natur pari zu bieten. Ich beruhigte mich, indem ich mir einredete, daß es wahrscheinlich doch nur ein Windstoß gewesen war, der durch eine Ritze zu uns hereingelangt war.
Ein Klappern wurde laut, aus der Richtung des Tisches her, so als ob jemand die Tischbeine einzeln gegen den Boden stoßen würde. Gunnel begann leise zu jammern, und Renate fragte, ein wenig verärgert:
"Was machst du denn dort, Walter?"
"Sei nicht komisch, ich sitze hier auf dem Bett", antwortete ich und schwieg betreten. Auch ich hatte angenommen, daß entweder Georg oder Renate aufgestanden und zum Tisch gegangen war. Als Gunnels Griff um meinen Arm ein wenig fester wurde, konnte ich mir nicht helfen - eine Gänsehaut lief kalt über meinen Rücken.
Lächerlich, sagte ich mir, draußen muß etwas gegen die Holzwand gefallen sein. Der Wind hat ein paar Eiszapfen abgerissen, die den Lärm verursachten. Kaum aber hatte sich mein jäh hochgeschnellter Puls wieder ein wenig beruhigt, kam das nächste Phänomen. In der Ecke des Kamins erschien ein Glühen. Georg machte uns darauf aufmerksam. Es war, als ob jemand die halbverkohlten Holzstücke im Kamin wieder zum Glimmen gebracht hatte. Ich spürte die Fingernägel der Schwedin durch meine Windjacke und ich war froh darüber. Sie waren etwas Wirkliches, Verständliches. Wir starrten alle zum Kamin hinüber, nehme ich an. Aus Gunnels Kehle kam ein klagender Laut. Ich spürte wieder ein Schaudern, jetzt bis in die Beine hinunter. Es sah aus, als ob sich leichter Rauch im Kamin hochkräuselte.
"Kinder, macht mich nicht verrückt!" Renate stand auf. Ich glaubte sie sogar schemenhaft sehen zu können, obwohl wir bisher in totaler Finsternis gesessen waren. Sie ging mit sicheren Schritten die paar Meter bis zum Kamin.
"Das ist doch alles nur Einbildung", sagte sie selbstbewußt, wie um sich Mut zuzusprechen. Jetzt konnte ich ihre Umrisse fast deutlich sehen. Ehe wir sie hindern konnten, beugte sie sich hinab und nahm eines der verkohlten Stücke zwischen die Finger. Mit einem Aufschrei ließ sie es wieder zurückfallen und floh zu uns zurück. Als das Stückchen niederfiel, vermeinte ich ein paar Funken zu sehen, die plötzlich zerstoben.
"Das....das ist.....", Renate konnte kaum sprechen. "Das ist ja nicht möglich", stieß sie hervor. "Das war heiß. Ich habe mich verbrannt!"
Gunnel klagte laut. Sie hielt mich noch immer fest, ihre zweite Hand hatte sie vor die Augen gelegt. Auch ich saß steif da, dennoch noch immer ungläubig. Georg faßte sich zuerst.
"Ich mache Licht", verkündete er. Er strich ein Zündholz an, es verlosch augenblicklich wieder. So das zweite. Das dritte. Zwischen den Zähnen fluchend nahm er ein paar Stück und rieb sie gegen den Schwefel. Ein kurzes Aufflackern, sekundenlang, dann war es wieder dunkel. Und Georg sagte kleinlaut:
"Die Kerze ist weg."
"Hier. Nimm mein Feuerzeug." Renate war zu ihm getreten. Georg drehte den Stein, ein Flackern - aus. Böse drehte er die Gaszufuhr auf Maximum. Ein leuchtender Strahl schoß empor, dann stieß Georg einen gequälten Schrei aus und ließ das Feuerzeug fallen. Das Metall noch immer rotglühend, das Plastik geschmolzen, lag es auf dem Boden.
Gunnel warf sich mir um den Hals, weinend. Ich spürte die Angst in mir hochkriechen, der Brustkasten war plötzlich zu eng, mein Herz pochte wild. Das Glühen im Kamin war immer stärker geworden, es schickte schon einen dunkelroten Schein in die Kammer, die Umgebung beleuchtend. Eine Feuerzunge schoß hoch, ein dunkler Schatten wurde dahinter sichtbar. Ich verlor die Nerven. Ich riß Gunnel vom Bett hoch und stemmte mich gegen das Bett, sodaß die Tür frei wurde. Ich dachte nicht mehr, mein Körper arbeitete ohne Gehirn.
"Raus", brüllte ich. "Wir müssen raus!"
Ich riß die Tür auf und taumelte zurück. Eine Schneewand, die mir bis über den Kopf reichte, fast bis an den oberen Türrahmen emporragend, stand mir gegenüber. Im Zimmer hörten wir ein höhnisches Gelächter schallen, das jeder Beschreibung spottet. Im Kamin brannte jetzt ein Feuer, das zuckende Schatten umhersandte.
Gunnel war auf dem Boden zu einem Haufen zusammengesunken. Georg stand der Mund offen. Dann war der Teufel los. Wirklich und fast leibhaftig. Der dreibeinige Schemel beim Tisch hob sich sachte etwa einen halben Meter vom Boden hoch, dann sauste er mit Gewalt knapp an mir vorbei, gerade in die Wand. Das schwere Bett begann auf dem Boden hin- und herzufahren und wir hatten alle Mühe, uns aus dem Weg zu halten. Dazwischen immer das grausige Lachen, teuflisch, wild und spottend.
Es war das nackte Grauen, das jede Vorstellung übertrifft. Meine Schwester, meine starke, unbeugsame Schwester, sank auf die Knie nieder, die Hände gefaltet.
"Vater unser", begann sie laut, da traf der Schemel sie von hinten am Kopf. Ohnmächtig sank sie um. Da, wenn nicht schon früher, verlor ich jegliche Kontrolle über mich. Irr vor Angst, den schreienden Schrecken in mir, lief ich wieder zur Tür. Sie flog mir entgegen, aus den Angeln gehoben. Sie traf meine linke Schulter, der Schmerz war höllisch, aber ich verschwendete keinen Gedanken daran.
Der Schnee hatte den letzten Spalt geschlossen. Ich hämmerte gegen diese Mauer, blindwütig, stieß die Fäuste dagegen, sodaß ich bis zu den Schultern in die weiße Masse fuhr, resultatlos. Und immer wieder das grauenhafte Lachen in den Ohren.
Meine Schwester schien wieder zu sich zu kommen. Wie im Krampf zuckten ihre Glieder, ihre Gesichtszüge veränderten sich, wurden roh, hart, ein höhnisches Grinsen legte sich in ihre Mundwinkel. Sie schlug die Augen auf, starr hindurchsehend durch alles was in ihren Blick kam. Die Pupillen waren groß, schwarz, die ganze Iris bedeckend, wie abgrundtiefe Löcher. Sie fletschte die Zähne, dann kam ein Knurren aus ihrem Mund. Sie flog hoch, stellte sich uns gegenüber, die Arme unnatürlich abgewinkelt, die Finger gekrallt. Eine Stimme, eine tiefe, grausame Stime, eine unmenschliche Stimme klang aus ihr.
"Brut!" Sie heulte es heraus.
"Renate!" Mit zwei Schritten war ich bei ihr, aber blitzschnell hieb sie mit der Hand über mein Gesicht, sodaß ich heute noch eine bleiche Schramme trage, als Erinnerung, als ihr Fingernagel meine Wange aufriß.
"Brut", schrie sich nochmals, animalisch, "lächerliche, ungläubige Menschenbrut! Den ganzen Tag habt ihr mich verspottet. Jetzt müßtet ihr euch sehen, wo ist euer Spott jetzt, wo ist euer Hohn geblieben?" Die Stimme ging in ein Kreischen über.
"Ich möchte euch vernichten, aber ihr sollt hingehen und meinen Triumph verkünden. Diese Stunden sollt, könnt ihr nie vergessen."
Renate schwankte ein wenig. "Ich würde euch vernichten", wiederholte sie mit etwas leiserer Stimme, und das Feuer im Kamin verfiel ein wenig, "aber....ich kann....."
Sie stockte, im Kamin lag nur mehr Glut.
"Es nicht", vollendete sie den Satz. Und mit dem letzten Aufflackern, mit letzter Kraft, fügte sie ein drohendes "Noch nicht!" hinzu. Dann war es wieder finster. Renate fiel zu Boden, anscheinend wieder ohnmächtig. Ich keuchte schwer.
Aber die Sorge um meine Schwester gab mir Kraft. Ich zog sie zum Bett, das jetzt mitten im Zimmer stand, und legte sie darauf. Dann massierte ich langsam ihren Körper. Es war, als ob es uns allen die Sprache verschlagen hätte. Wir sagten keiner ein Wort.
Das "noch nicht" klang dröhnend in mir nach. Jetzt erst merkte ich auch den Geruch, der im Zimmer lag. Die Luft war abgestanden, verbraucht, ein wenig dumpf. Es war drei Uhr.
Um vier rührte sich meine Schwester plötzlich und fragte in das Dunkel:
"Was ist denn los?"
"Renate", rief ich wieder, diesmal vor Freude, und umarmte sie. Ihre Frage hatte den Bann gebrochen. Wir sprachen plötzlich alle durcheinander, bemerkten erst jetzt, daß es überstanden war, sahen einen ersten Hoffnungsschimmer.
Das Heulen des Sturmes hatte auch aufgehört, aber es wehte nach wie vor. Kurz vor fünf merkten wir, daß der Schnee oben an der Tür wieder einen Spalt frei ließ. Es blies jetzt kalt ins Zimmer herein, gleichzeitig aber kam frische Luft. Als eine knappe Stunde später die Sonne aufging, war der Zwischenraum so groß, daß wir hinausklettern konnten. Es war gar nicht so viel Schnee gefallen, aber die Hütte war an der Tür und an der Fensterwand vollkommen zugeweht. Vom Bären sahen wir keine Spur.
Totmüde, zerschlagen, aber glücklich darüber, am Leben zu sein, schnallten wir unsere Skier an und machten uns auf den Heimweg.

Wir kamen zum Hof und schliefen den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht durch. Dann versuchten wir uns wieder normal zu benehmen, aber uns war die Lust an der Natur und der Einsamkeit vergangen. Zwei Tage später reisten wir ab, obwohl wir noch eine Woche Urlaub hatten. Gunnel und Renate schreiben einander heute noch ab und zu, aber ich glaube, daß sie diese Nacht nicht erwähnen.
Ich habe auch versucht zu vergessen, aber dann und wann höre ich ein heiseres "noch nicht" tief in mir.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 1996


Zurück zu den oder zur

webmaster@werbeka.com