DAS VERLORENE PARADIES

DAS VERLORENE PARADIES


Unsere beiden Jungen sind weit vor uns, sie haben das alte, stillgelegte Gleis entdeckt, den Zubringerweg, auf dem früher Güterwagen das Holz vom Sägewerk zur Bahnlinie brachten.
Ab und zu dringt ein Freudengeheul zu uns herüber, wenn einer von ihnen wieder einen Rekord verbessert hat, das heißt ein paar Schwellen weiter balanciert ist, als bisher. Der Große schreit öfter, aber er ist auch drei Jahre älter und sein Gleichgewichtssinn ist natürlich besser entwickelt.
Meine Frau hat sich bei mir eingehakt, zur Hälfte weil sie wohl von dem langen Spaziergang am steinigen Uferweg müde ist, teils aber auch weil es ganz einfach dazugehört zu einem der ersten, sonnigen Frühlingssonntage, an dem man der Stadt entkommen ist, und die Ruhe, das Gefühl von Freiheit und die frische Luft eine innere Stimmung von Zusammengehörigkeit schaffen.
Wir sind stehengeblieben, weil man hier von dem winzigen Hügel einen Überblick hat, der den ganzen Lebensraum meiner Kindheit umfaßt. Ich habe mit der linken Hand eine Zigarette aus der Packung gefischt und rauche nun schweigend, erfüllt von den Gedanken an früher, die so gar nicht mit der jetztigen Wirklichkeit übereinstimmen.
Vor uns liegt ein weißes, massiges Fabriksgebäude, das mit seinem modernen Flachdach wie eine riesige Zündholzschachtel aussieht - ein Quaderstein aus Beton, mit genau so wenig Wärme und Menschlichkeit, wie die heutige Zeit es gebietet.
Breite Kieswege für die Lastwagen führen kreuz und quer über das Fabriksgelände, dort wo einmal Obstbäume standen und wo sich jährlich einmal das Wunder von Blüte, Reifung und Ernte vollzog.
Auf dem Platz, wo einmal unser Sommerhäuschen stand, liegen jetzt Berge von alten Autoreifen. Ein gigantischer Haufen Abfall statt fröhlichem Kinderlachen oder dem begeisterten Siegesgeschrei über ein erzieltes Fußballtor.
Nur da hinten, rechts von den hohen Pappeln, liegt noch die Wiese, auf der die Pionierabteilung der nahen Kaserne manchmal ihre Übungen abgehalten hat, wo uns die Schützengräben und die versteckten Bunker geheimnisvolle Abwechslung geboten hatten. Aber auch die Wiese lag öde, verlassen. Keine Mädchen kochten dort ihren Sandbrei mehr und keine Buben wurden gefangengenommen und mit abgestreiften Leibchen an die Sträucher gefesselt.
All das sehe ich, begreife es mit dem Verstand, aber mit der Seele kann ich es nicht bewältigen. Es ist, wie immer bei den seltenen Gelegenheiten, da wir hier vorbeikommen, eine Leere in mir; es ist als ob ich ein Loch dort fühlte, wo sonst das Herz sitzt.
Ich werfe die begonnene Zigarette fort.
"Komm, gehen wir Kaffee trinken", sage ich zu meiner Frau.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden, 1996


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