Die Grotte von Han


Han an der Lesse liegt in den Ardennen, im südöstlichen Belgien. Die Lesse ist ein kleiner Zufluss zur Maas. Hier gibt es ein fünfzehn Kilometer langes Höhlensystem, das der Fluss im Laufe der Jahrtausende aus dem Kalkstein herausgewaschen hat. Um dorthin zu kommen, fährt man vom Ort aus etwa vier Kilometer mit einer uralten Straßenbahn - das allein ist schon ein kleines Erlebnis.
Im Sommer ist es ratsam, sich etwas zum Überziehen mitzunehmen, denn die Temperatur im Grotteninneren ist nur etwa dreizehn Grad. Andererseits bleibt die Temperatur über das Jahr hinweg nahezu unverändert, sodass man sich im Winter da drinnen wärmen kann.
Es ist auch ratsam, nicht im Sonntagsanzug zu kommen, sowie ein wenig festere Schuhe an den Füssen zu haben. Zum Teil ist der Weg nämlich recht feucht und man spritzt sich unweigerlich den untersten Teil seiner Kleidung an.
Die Lesse verschwindet am sogenannten Gouffre (=Abgrund) del Belvaux, um dann etwa zwei Kilometer unterirdisch weiterzufließen, bevor sie wieder am Tageslicht erscheint.
Wir betreten das Höhlensystem allerdings bei Trou (=Loch) au Salpetre, aber es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Über steile Stellen führen schön ausgehauene Stufen und obwohl es mehr als vierhundert sind, ist der Weg nicht mühsam, weil es meistens bergab geht. Insgesamt sind knappe drei Kilometer zurückzulegen, aber die Tour mit dem Guide dauert mehr als eine Stunde - es ist also keine physische Anstrengung dabei. Im Salle du Dôme befand sich früher ein Café - heute wird dort ein Lichterspiel mit dazugehöriger Musik gezeigt.
Es dauert nicht lang, bevor man zu den ersten Tropfsteinen gelangt. Tropfsteinbildungen kommen daher, dass das Regenwasser, das durch den Kalkstein sickert, ein wenig davon auflöst und den Kalk mit sich führt. Wenn das Wasser dann eine Höhle findet, bilden sich Tropfen, die auf den Boden fallen. Ein wenig des Kalks bleibt aber an der Decke haften und bildet so mit det Zeit einen Stalaktiten, der von oben nach unten wächst. Aber auch der Tropfen, der fällt, enthält noch ein wenig Kalk, der sich am Boden ablagert und einen Stalagmiten bildet. Das alles geht natürlich sehr langsam - in der Grotte von Han ist der durchschnittliche Zuwachs ein paar Zentimeter pro Jahrhundert.
Desto schrecklicher ist die Erklärung unserer Führerin, warum manche Tropfsteine so abrupt enden. "Das sind Touristen, die einen Stalaktiten abbrechen und ihn als Souvenir mitnehmen."
Man stelle sich das einmal vor: die Natur braucht tausende, manchmal hunderttausende Jahre, um einen solchen Tropfstein zu bilden ...
... und dann kommt ein Idiot daher und zerstört das - für alle, die nach ihm kommen, natürlich auch.
Der älteste Tropfstein in dieser Höhle ist übrigens 500.000 Jahre alt, also ein halbe Million! Die Geschichte der Höhle ist nicht ganz so alt, aber immerhin beachtlich. Schon vor viertausend Jahren hatte die Grotte Bewohner, zwar nur an den äußeren Teilen, denn im dunklen Inneren fürchteten sich die Menschen zu sehr. Aus dieser Zeit hat man Geräte aus Feuerstein und Knochen gefunden, sowie einige Topffragmente. Die nächste bedeutende Behausung bot die Höhle zwischen 1200 und 700 v. Chr.
In dieser Periode erlebte die Gegend eine Blütezeit und bildete einen der wichtigeren Orte in Westeuropa während der jüngeren Bronzezeit. Waffen und Geräte aus Bronze, Schmuckstücke und jede Menge Töpfereiwaren hat man aus dieser Besiedlung ausgegraben - das meiste davon aus dem Boden der Lesse. Ab 400 v. Chr. bis zur Zeitenwende gab es eine dritte Bevölkerung, die sich in den Höhlen ausbreitete. Aber auch nachher, aus der gallisch-römischen Zeit hat man Gebrauchsgegenstände, Münzen und gravierte Glasscherben zutage gefördert.
Auch wenn die Höhlen zu späteren Zeiten nicht mehr bewohnt waren, dienten sie doch als Zufluchtsort bei Gefahr, durch das Mittelalter hindurch, bis ins 18. Jhd. hinein. Funde aus den Grotten werden im Grottenmuseum im Ort Han gezeigt. Leider war es bei unserem Besuch schon geschlossen.
Natürlich tragen die Farben und die Platzierung der Beleuchtung viel zu den Effekten bei.
Aber auch ohne Farben wäre jede Steinformation eine Sensation. Es ist unglaublich, welche Gebilde hier entstehen können. Auch die Vielfalt der Formen ist erstaunlich.
Unser Guide erklärt, dass ein Teil der Gänge der unteren Niveaus auch heute noch überflutet wird und warnt uns in einem Abschnitt, "vom richtigen Weg abzukommen", denn dort sei der Lehm der letzten Überschwemmung hingeschaufelt worden. Da könne es durchaus sein, dass der Schuh stecken bliebe.
Sie erklärt, dass man vor 1964 in ein noch tieferes Niveau hinuntersteigen musste, das aber regelmäßig überflutet werde und daher die Besichtigung nicht immer möglich war. Erst dann konnte man einen Durchbruch schaffen, sodass man jetzt die Führungen ganzjährig durchführen kann.
Aber noch immer ist die Grotte nicht vollständig erforscht.
Der Erste, von dem wir wissen, dass er in die Grotte eindrang, war Abt de Fellner im Jahr 1771. 1817 wurde das Höhlensystem zum ersten Mal durchquert, aber dann dauerte es noch bis zur zweiten Hälfte des 19. Jhd., bevor der große Sturm auf die Grotte losbrach. Mit Fackeln versuchte man immer weitere Nebenhöhlen zu entdecken - und richtete dabei erheblichen Schaden an, denn der Ruß der Fackeln blieb natürlich an den feuchten Wänden hängen und färbte sie schwarz ein.
Allerdings geschieht auch heute noch eine Schwarzfärbung, auch wenn alles schon längst elektrisch beleuchtet ist. Aber es gibt immer wieder neugierige Touristen, die den Tropfstein "befühlen" müssen - und wenn genug viele Hände darauf gelegt worden sind, wird der Stein ebenfalls schwarz.
Auch heute ist noch ein kleines Stück des unterirdischen Laufes der Lesse unentdeckt - dessen Erforschung Mitte des 20. Jhd. auch schon zwei Todesopfer gefordert hat.
Im Saal des Styx sehen wir die Lesse zum ersten Mal unter Tageslicht, aber sie verschwindet ziemlich schnell wieder durch einen neuen Abgrund. Wir gehen noch ein Stück weiter zum Salle du Dôme - übrigens das einziger Teilstück wo wir treppaufwärts gehen müssen - um uns dann auf hölzerne Bänke zu setzen und dem enormen Klang der schön abgestimmten Musik zu lauschen.
Dann wird es ganz dunkel. Im Lichterspiel werden dann abwechselnd nur einzelne Formationen beleuchtet, was zu einem großartigen Schauspiel wird.
Von dort ist es dann gar nicht mehr weit, bis wir in der Ferne das Tageslicht sehen. Eine letzte Überraschung gibt es noch, denn kurz vor dem Ausgang wird ein "Kanonenschuss" abgefeuert, um das Widerhallen in der Höhle zu demonstrieren. Und obwohl man davor gewarnt wird, erschrickt man.
Gleich danach treten wir über eine Brücke - zusammen mit der Lesse - aus der Grotte wieder ins Freie.

Copyright Bernhard Kauntz, Wolvertem 2009



Zurück zu oder zum von


6.7.2009 by webmaster@werbeka.com