BURG GRAVENSTEEN


Die Burg Gravensteen liegt in Gent, mitten in der Stadt. Die Hälfte der Anlage grenzt an einen natürlichen Wassergraben, den Fluss Leie, was bei der Verteidigung von großem Vorteil war. Man behauptet, dass die Burg die einzige Anlage des Landes ist, die die mittelalterlichen Verhältnisse und Lebensbedingungen der Bevölkerung heute noch anschaulich macht. Das ist sicherlich richtig, denn schon aus der Ferne macht die Burg einen äußerst stabilen Eindruck, was daran erinnert, dass sie bei feindlichen Angriffen auch Zufluchtsort war. Noch deutlicher wird dieser Eindruck, wenn man dann plötzlich, aus einer Seitengasse hervortretend, vor dem riesigen äußeren Tor steht, das einmal die erste Verteidigungslinie darstellte.

Im zweiten, inneren Burgtor, noch bevor man in den Hof kommt, steht eine Stammtafel über die ersten Herrscher des Landstriches.

Die Geschichte beginnt bei Balduin mit dem eisernen Arm, der schon im 9. Jhd. durch ein befestigtes Haus die Gegend vor den Angriffen der Wikinger schützte. Im späten 11. Jhd. ließ Robert der Friesier ein steinernes Haus mit den Ausmaßen 33 x 19 m errichten, in dem die Mauern 2 m dick waren. Die heutige Burg jedoch wurde von Graf Philipp von Elsass etwa 1180 erbaut. Er war auf seinem Kreuzzug nach Palästina von den Burgen anderer Kreuzfahrer inspiriert worden. Daher stammen auch die Ähnlichkeiten zu Burgen weiter im Osten.

Die Besichtigung des Schlosses geht auf genial einfache Weise vor sich. Es gibt in der ganzen Burg nummerierte Tafeln, die teils - auf Flämisch, Französisch, Englisch und Deutsch - den Ort beschreiben, an dem man sich befindet, teils mit einem Punkt markieren, wo im Schloss man gerade ist und schließlich mit einem Pfeil angeben, wo es weiter geht. Das ist äußerst praktisch, weil jedermann alles in seinem eigenen Tempo ansehen kann.

Der erste Raum, der zu sehen ist, ist der große Saal, auch Rittersaal genannt, mitten in der Burg. Die Wände bestehen zum Teil noch aus den Mauern des steinernen Hauses - sie sind also 900 Jahre alt! Als Philipp die neue Burg baute, ließ er den Grund aufschütten, sodass der früher ebenerdige Teil nun zum Keller wurde. In Roberts altem Haus war der Boden dieses Saales nämlich auf der Höhe des Wasserspiegels der Leie. Dies verhinderte, dass ein Feind einen Tunnel unter der Stadtmauer graben konnte.
In diesem Saal hielt der Graf Versammlungen ab und schloss wichtige Verträge.

Die äußere Burgmauer, die zur Leie abfällt

Die alten Mauern, von denen man überall umgeben ist, tragen auch zur Stimmung bei
Auch wenn Gravensteen auf Deutsch Grafenstein, also "die Burg des Grafen", bedeutet, und auch wenn die Grafen abseits der Burg, aber immer noch innerhalb der Burgmauer ein eigenes Haus besassen, haben sie nicht oft in der Burg übernachtet. Zum Teil kommt das daher, dass sie ja in ihrem Land mehrere Burgen hatten und überall ihre Interessen wahrnehmen mussten. Daher konnten sie nicht so oft in Gent sein.
Auch die Kreuzgewölbe lassen den Besucher an die Baukunst dieser Zeit denken

Teils gab es aber auch bequemere Übernachtungsplätze, wie zum Beispiel in einer der Kathedralen der Stadt. Das Verhältnis zwischen den Mönchen und den Grafen war jedoch nicht immer das Beste. Die Kirchenmänner verachteten oft die ungebildeten Grafen, die weder lesen noch schreiben konnten, sondern nur rohe Gewalt ausübten - aber die Grafen hatten - wie schon seit Urzeiten - die Macht des Stärkeren auf ihrer Seite. Wie wenig sich die Welt doch ändert! Bücherverbrennungen und Verfolgung der Intellektuellen sind ja auch heute noch beliebte Mittel etlicher Despoten ...

Die Burg diente in Friedenszeiten in erster Linie als Symbol der Kraft und der Macht, dann als Repräsentationsgebäude und Gerichtshof - erst zuletzt als Wohnort. Für die täglichen Routinen wurde ein Verwalter eingesetzt.
Natürlich war es der Graf selbst, der die Rechtsprechung übernahm, wenigstens so lange das Rittertum vorherrschend war. Doch auch später wurde hier in der Burg gerichtet und verurteilt. Zwischen 1407 und 1778 trat in der Burg der Rat von Flandern zusammen, der die höchste Gerichtbarkeit im Land war. Die Guillotine, die hier zu sehen ist, ist nur eine Nachbildung, dagegen ist das Beil ein Original ...
Der aufmerksame Leser wird sich fragen, wie eine Guillotine zu so früher Zeit verwendet werden konnte. Ganz richtig. Der französische Arzt Joseph-Ignace Guillotin "erfand" diese Todesmaschine ja erst 1789. Aber ähnliche Konstruktionen mit Fallbeil hat es schon früher gegeben, die frühesten sind schon aus dem 12. Jhd. belegt.

Der Besucher bekommt nicht nur die Gemäuer zu sehen, sondern man kann im Schloss auch zwei Museen besichtigen.

Das erste davon ist in der Rüstkammer untergebracht, wo man eine Waffensammlung zeigt. Eine volle Rüstung bildet den Mittelpunkt in den Schaukästen und ringsherum werden verschiedene Waffen gezeigt.

                   
Neben diversen Speeren, Lanzen, Schwertern, usw. gibt es auch eine schön ausgeformte Armbrust und einen Kriegsflegel zu sehen. Letzterer soll sich aus dem Dreschflegel entwickelt haben, mit dem die Bauern in den Kampf zogen, weil sie keine bessere Waffe hatten.

Nach einer kurzen Visite auf dem Dach, von wo man eine schöne Aussicht über die Skyline von Gent hat, geht es über steile Treppen wieder hinunter. Jetzt kommt man in das zweite Museum, wo vor allen Dingen Folterwerkzeuge gezeigt werden.
Wieder muss ich feststellen, dass die Welt auch 900 Jahre später noch genauso grausam ist, wie auf dem Bild. Heute nennt die CIA das "Waterboarding" ...
Aber vielleicht könnten diese Verhörsleiter tatsächlich noch etwas lernen. Das eiserne Halsband war nämlich auch ein beliebter Torturgegenstand. Es handelt sich hierbei um einen Metallring, der spitze Zacken nach innen hat. Dieser wird dem Opfer um den Hals gelegt und dann an zwei Stellen im Raum straff angespannt. Das Opfer kann sich dann nicht bewegen, oder gar einschlafen, ohne sich selbst zu verletzen. Aber zugegeben, mit dem Waterboarding erreicht man ein schnelleres Geständnis.

Ein wenig angewidert gehe ich weiter und komme bald zum Wehrgang, der ganz um die äußere Burgmauer herumführt. Auf dem Hinterhof steht ein verlassenes Katapult, das natürlich an Belagerungen denken lässt. Tatsächlich wurde die Burg zweimal belagert, beide Male in der ersten Hälfte des 14. Jhd. Aber es war kein fremdes Heer, das die Burg einnehmen wollte.
Es war vielmehr die Genter Bevölkerung, die gegen die Obrigkeit den Aufstand erprobte und beide Male erfolgreich blieb. Einmal räucherte man die Insassen aus und beim zweiten Mal gelang es, ein Loch in die Mauer zu machen.

Im Hinterteil der Burg sieht man auch die nicht restaurierten Teile der alten Küche. Hier mag man die Mahlzeiten für die Feste der Fürsten zubereitet haben. Wildbret gehörte natürlich zu den Hauptingredienzen eines Mahles - Hasen, Hirsche, Rehe und nicht zuletzt Wildschweine. Interessanterweise gehörte auch gewöhnliches Schweinefleisch eher zu einem fürstlichen Mahl als zur Normalkost der Bevölkerung. Und wäre er in dieser Gegend nicht schon im 12. Jhd. ausgestorben - wäre Braunbär ein unübertreffliches Zeichen von Macht und Würde gewesen.

Vom Wehrgang aus kommt man über eine Spiraltreppe in den Raum mit dem kreuzförmigen Fenster, das schon beim Umrunden der Burg von außen die Aufmerksamkeit erregt. Man vermutet, obwohl es keinen Beleg dafür gibt, dass sich hier die Kapelle für die Soldaten des Fürsten und für die Wachmannschaft der Burg befand.

Die letzten Stationen der Führung sind die heutigen Keller des Hauses, was aber im Fall der sogenannten Krypta früher das ebenerdige Geschoß, in der Höhe des Wasserspiegels ausmachte. Man nimmt an, dass sich hier die Pferdeställe befunden haben, aber auch, dass die Mannschaft zusammen mit den Pferden hier übernachtet hat.

Unter dem Haus des Grafen, an der Burgmauer, befindet sich schließlich die Vorratskammer. Wenigstens wurde sie im Mittelalter als solche benützt, so lange die Burg noch ihren eigentlichen Zweck erfüllte. Später, in der "Zeit der Aufklärung", wurde sie von der Inquisition als Torturkammer benützt ...

Zu den Kuriositäten der Geschichte der Burg gehört auch, dass sie nach 1778 "privatisiert" wurde, das heißt, dass ihre Räume vermietet wurden. Den größten Teil des 19. Jhd. gehörte eine Baumwollspinnerei zu den Mietern der Burg.


© Bernhard Kauntz, Västerås 2008




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last update: 12.3.2008 by webmaster@werbeka.com