SAGENHAFTES WIEN

Die Himmelspförtnerin


Die Spannung im Speisesaals des Klosters war nahezu greifbar. Die knapp dreißig Frauen starrten gespannt den langen hölzernen Tisch entlang, auf dem der Wein und das Wasser unberührt standen. Das Brot und der Käse lagen unaufgeschnitten auf den Holztellern, das Vesper hatte nach dem Gebet eine ganz unerwartete Wendung genommen.

Die Nonnen saßen nach dem eben Gehörten mit offenen Mündern da, gerade als die junge Elisabeth, die im Kloster die Pförtnerdienste versah, ihre Erzählung, oder vielleicht ihre Beichte, abschloss:

"Dann habe ich eben an die Pforte geklopft, und die Himmelsmutter selbst hat mir geöffnet."

So etwas war noch nie geschehen, ja es war unglaublich und unerhört, und so mancher Zweifel glomm in den Augen der frommen Schwestern. Dennoch waren sie von den Details und der Genauigkeit der Beschreibung fasziniert und so manche träumte wohl davon, Elisabeths Mut besessen zu haben.

Die junge Pförtnerin hatte ihren Bericht damit begonnen, dass sie erzählte, wie ihre Sehnsucht nach dem Leben außerhalb des Klosters gewachsen war. Jedesmal, wenn sie jemand die Pforte aufschloss, waren ihre Gedanken abgeschweift, hatte sie sich vorgestellt, selbst einmal hinauszukommen in die große Welt. Wie oft hatte sie durch das kleine Guckloch in der Pförtnerloge nach draußen gestarrt, um nur einen kleinen Teil der Vorgänge von der anderen Seite zu erhaschen.

Und eines Tages, als sie Abenddienst versehen musste, war es zuviel geworden. Sie hatte die Füße des Standbildes der Muttergottes, das neben dem Eingang stand, zum Abschied geküsst, ein kurzes Gebet um Vergebung und um Beschutz gesprochen und dann den Schlüssel vor Maria hingelegt - dann war sie entwischt.

Dann hatte Elisabeth von ihren Erlebnissen erzählt, von guten und schlechten Menschen, die sie getroffen hatte, von den Schwierigkeiten, sich das tägliche Brot zu verdienen. Sie hatte auch nicht vergessen, von ihrer Liebe zu erzählen, die sie dort draußen erfahren hatte, und von der grenzenlosen Enttäuschung, als ihr Geliebter sich von ihr abgewendet hatte. Bei diesem Abschnitt der Erzählung hatte sich ihr erhitztes Gesicht noch mehr gerötet, man hatte ihr angesehen, dass es ihr schwer fiel, aber sie war entschlossen gewesen, nichts zu verheimlichen.

Sie hatte von traurigen und heiteren Tagen erzählt, von den Schicksalen der Menschen, die sie getroffen hatte, vor allem aber viel vom Elend in der Welt. Und schließlich war der Wunsch in ihr wach geworden, doch wieder in die fürsorgende Gemeinschaft des Schwesternkreises aufgenommen zu werden. Da war sie zurückgekehrt.

Die Oberin, deren Knie Elisabeth während des Sprechens umklammert hielt, strich der jungen Frau leicht über die blonden Haare, um ihren flatternden Atem zu beruhigen, und jetzt fragte sie:

"Und wie lange, sagtest Du, dass Du draußen warst, Kind?"

"Sieben Jahre lang."

"Das ist mehr als seltsam." Die alte Oberin, reich an Erfahrung, wiegte bedächtig den Kopf. "Wir haben dich nämlich jeden Tag hier gesehen, du hast ja an all unseren Mahlzeiten teilgenommen. Andererseits sind deine Angaben und Beschreibungen so detailliert, dass ich nicht bezweifeln kann, dass du die Wahrheit sagst. Das allerdings lässt nur einen Schluss zu ..."

Die alte Frau machte eine Pause, wie um den nahezu frevelhaften Gedanken, der ihr durch den Kopf ging, nochmals zu überdenken. Dann aber sprach sie ihn aus:

"Das muss bedeuten, dass die heilige Muttergottes dich in deiner Gestalt bei uns vertreten hat, sodass wir nichts merken sollten. Wenn du behauptest, sie selbst habe dir die Pforte geöffnet, so stärkt das natürlich meine Annahme. Und wenn du solch himmlischen Beschutz hast, dann können wir deine Taten natürlich auch nicht verurteilen. Ich heiße dich also willkommen zurück in unseren Kreis."

Schluchzend drückte Elisabeth die Knie der Oberin ein wenig fester, während diese ihre Rede beendete.

"Jetzt sie aber zu, dass du auf deine Kammer kommst, damit du dich beruhigst und dich erholst. Du siehst ja ganz erschöpft aus, Kind."

Zwei Mitschwestern halfen dabei, die junge Frau in ihre Zelle zu führen und die Fiebernde ordentlich zuzudecken. Am nächsten Morgen kam Elisabeth jedoch nicht mehr zu der gemeinsamen Mahlzeit - sie war während der Nacht gestorben.

Die Oberin schickte eine Mitteilung dieses Vorfalls an den Papst, woraufhin dieser verfügte, dass das Kloster fortan "Zur Himmelspförtnerin" genannt werden solle. Heute noch erinnert die Himmelpfortgasse in Wien an diesen Vorfall, obwohl das Kloster von Joseph II im Jahr 1784 aufgelassen wurde. Die Madonnenstatue wurde damals in den Stephansdom gebracht, wo sie heute noch in der Eligiuskapelle, rechts vom Riesentor, zu sehen ist.


* * * * * * * * * *


Diese Geschichte hat sich im 14. Jhd. zugetragen, zu einer Zeit also, in der Kirche und Religion einen weit größeren Einfluss hatten, als heute. Es überrascht also nicht, dass man in ohnehin gläubigen Kreisen von einem Wunder ausging, statt das Nächstliegende anzunehmen: Elisabeth war schon schwerkrank gewesen, als sie in den Speisesaal kam, um ihre Geschichte zu erzählen. Dass sich eine junge Frau in einem Kloster nach der Freiheit und ein bisschen Liebe sehnt, ist ja weiters nicht verwunderlich. Und sie hatte dieses Erlebnis wahrscheinlich wirklich gehabt, allerdings nur in ihren Fieberträumen...


Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden 2003


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