DAS VERLORENE PARADIES

HOCHWASSER


Ende Juli begann es zu regnen. Es regnete Tag und Nacht. Es goß nicht immer in Strömen, nein, manchmal nieselte es nur. Dann erfüllte ein ganz feiner Sprühregen die Luft und es war als ob man sich im Randbereich eines Rasensprenklers befinden würde. Aber zur Abwechslung kam dann wieder ein Wolkenbruch, nach dem das Wasser nicht schnell genug abrinnen konnte und wir Kinder barfuß durch diese temporären, seichten Seen liefen. Unsere Eltern waren nicht so begeistert, denn diese Unwetter richteten großen Schaden an, vor allen Dingen in den Blumen- und Gemüsebeeten.
Wir Buben mußten es tatsächlich eine ganze Woche lang ohne Fußball aushalten, denn nach dem Versuch, bei erster Gelegenheit den Wettergöttern zu trotzen, bekamen wir allerstrengstes Spielverbot von unseren einträchtigen Müttern. Ich gebe gerne zu, daß sich die Schuhe nach dem Training ein wenig schwer angefühlt hatten, und daß auch das Leibchen und die Hose nicht ganz sauber gewesen waren. Aber daß wir sogar das Match am Wochenende absagen mußten, obwohl wir unsere Erzrivalen haushoch besiegt hätten, das konnten wir nur mit Mühe akzeptieren - verstehen konnten wir es nicht.
Zum Glück hatte Ernstl ein Tischfußballspiel. Seine Familie mußte sich eben damit abfinden, eine Woche lang ihre Kinderzahl vervielfacht zu haben. Unsere Meisterschaftsspiele konnten außerdem sehr hitzig ablaufen... Ernstl war natürlich Kaiser - er hatte die meiste Übung und gewann Spiel auf Spiel. Erst gegen Ende dieser Regenwoche hatten wir anderen den Rückstand wettgemacht, und die Schlachten wurden noch heißer, noch lauter.
Die Abende, da konnten wir wirklich nicht weiterspielen - Ernstls Mutter schaffte an diesem Punkt schon am ersten Tag Klarheit, verbrachte ich zusammen mit Moma; entweder bei ihr daheim, oder bei uns, in meinem Zimmer. Ich versuchte sanft, aber nachdrücklich, ihr Schachspielen zu lernen, und gutmütig wie sie war, tat sie ihr bestes. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, muß ich feststellen, daß entweder ihre Begabung oder ihr unterbewußtes Interesse dafür nicht ausreichend war. Dennoch - ich zumindest war unversehens in die erste romantische Periode meines Lebens geschlittert und war dazu bereit, meiner Liebe mein ganzes Selbst vor die Füße zu legen. Ein Teil von mir jedoch war eben die Schachspielkunst, verzeih mir, Moma.
Meine Freunde hatten natürlich gemerkt, daß ich oft mit Moma zusammen war, und sie hänselten mich deshalb. Allen voran Gerhard, der meinte, ich müsse ja verrückt sein, Weibern nachzulaufen; dieses Übel käme ganz von selbst auf einen zu. Eine Lehre, die er vermutlich direkt aus der väterlichen Quelle bezogen haben mußte, da sein Stiefvater bereits zum dritten mal verheiratet war.
Ich trug aber diese Bemerkungen mit stoischer Ruhe, überließ meine Kameraden ihrem Schicksal, wenn Moma abends heimkam - sie mußte in diesem Sommer zum ersten Mal im Geschäft ihrer Eltern mithelfen - und freute mich über jeden Blick, den sie mir zuwarf, jedes Wort, das sie zu mir sprach und über jede Berührung, die sie mir gestattete.

Eines Tages hörte es auf zu regnen. Endlich konnten wir wieder hinaus ins Freie, die Beengtheit in den Hütten hatte zu schlechter Laune, zu kleinen Streitereien und sogar zu einem Zerwürfnis zwischen Gerhard und Hinke geführt.
Der Boden auf der Wiese war aber noch imemr ziemlich tief, sodaß unser Fußballverbot bestehen blieb. So zogen wir denn hinunter zum Fluß. Umberto und Peter, die uns anderen ein Stückchen vorangingen, schrieen plötzlich überrascht auf.
Träge, breit, braun und voll von losgeschwemmten Zweigen und Ästen wälzte sich unser Fluß dahin. Als wir näherkamen, sahen wir, daß die Sträucher, in denen sich unsere selbstgebaute Bank befand, schon unter Wasser standen. Unser Fluß, der normalerweise zwei, und wenn es viel war, dreieinhalb Meter Wasser führte, wies einen Pegelstand von sechs Meter zweiunddreißig auf. Nur ein guter halber Meter Höhe trennte den Uferweg noch vom Wasser. Bei sechs Meter vierundneunzig endete die Maßskala am oberen Ende der Treppe, das war also die maximale Wasserhöhe im Flußbett.
Es war ein mächtiger und zugleich erschreckender Anblick. Wir wußten wohl alle, daß der Fluß früher schwere Überschwemmungen verursacht hatte, aber das war vor der Regulierung geschehen, das war doch schon fast ein halbes Jahrhundert her.
Wir folgten dem Fluß ein Stück stromaufwärts, unsere Gespräche wurden halblaut, fast flüsternd geführt, so waren wir von den Kräften beeindruckt, die da an uns vorbeizogen.

Beim Abendessen drehte sich die Konversation hauptsächlich um das Hochwasser. In der Zeitung, die mein Vater nach Hause gebracht hatte, stand, daß es im Westen des Landes, also in den Quellgebieten unseres Flusses zu schweren Überschwemmungskatastrofen gekommen war, und daß auch wir mit einem anhaltenden Ansteigen des Wassers rechnen mußten. Meine Eltern beschlossen, daß Vater am kommenden Morgen einige kostbare Dinge in die Stadt mitnehmen sollte, um sie dort in unsere Wohnung zu bringen, bevor er zur Arbeit fuhr.
Anschließend machten wir alle zusammen einen Spaziergang, um uns über die neueste Lage zu orientieren. Der Wasserstand bei der Treppe betrug sechs Meter achtundvierzig. Wir waren nicht die einzigen am Platz. Viele unserer Nachbarn und viele Leute aus der Ortschaft standen einzeln oder in Gruppen am Uferweg und starrten auf das Wasser hinaus.
Endlich den nie endenden Ermahnungen meiner Mutter folgend, nicht zu nahe an das Wasser heranzugehen, stellte ich mich zu meinem Vater, der mit Herrn Hitzinger und dem alten Herrn Karanegg über Maßnahmen diskutierte, die man ergreifen könne.
Herr Hitzinger nahm die Sache auf die leichte Schulter.
Ach, da kann noch viel Wasser dazukommen", meinte er achselzuckend, "bevor es zu uns in den Garten rinnt."
"Ach, das kann schnell gehen", widersprach Herr Karanegg, sein verbrauchtes Gesicht noch mehr runzelnd, sodaß es nur noch aus Falten bestand. "Voriges Mal ging es auch schnell. Am Abend war noch keine Gefahr, und am Morgen weckte uns das Wasser, als es in unsere Betten rann." Er wiegte bedächtig den Kopf und die Pfeife in seinem zahnlosen Mund schwang mit. "Ich weiß noch genau, wie es war, jaja, ich war wohl so alt wie der Kleine da." Dabei sah er mich an, und ich nahm ihm den "Kleinen" sehr übel. "Jaja, das kann schnell gehen", murmelte er nochmals, bevor er davonschlurfte. Herr Hitzinger lachte leise hinter ihm her.
"Er ist ein richtiges Original, der alte Karanegg. Jaja", äffte er. "Ich sage Ihnen, daß es gar nicht so viel Wasser gibt, daß es bis zu uns kommen kann."
"Na, ich weiß nicht. Ich nehme jedenfalls ein paar Sachen in die Stadt mit, morgen früh." Mein Vater bot dem anderen Zigaretten an. "Hier besteht wohl keine Gefahr für uns, da liegt ja auch noch der kleine Hügel dazwischen. Aber weiter oben, bei der Brücke. Wenn das Wasser dort einmal herauskommt, fehlt nicht mehr viel. Und von dort aus ist es auch ein wenig abschüssig, da kommt dann gleich ein halber Meter auf einmal."
"Schon, schon. Aber ich glaube ja gar nicht, daß es so hoch steigt." Herr Hitzinger schüttelte den Kopf. "Vielleicht können wir dort im Ernstfall eine kleine Verdämmung bauen. Wenn wir alle zusammenhelfen, haben wir das bald getan."
"Ja, das ist gut." Vater nickte. "Ich kann ja einmal mit Wingerl sprechen, der soll das organisieren. Dazu ist er ja Obmann."
Auf dem Heimweg gingen wir an der Brücke vorbei, die zu der kleinen Insel im Fluß führte, auf der unser Badeplatz lag. Das Wasser toste hoch an den hölzernen Pfeilern, die die Brücke verankerten, und von dem schmalen Sandstrand auf der Insel war keine Spur mehr zu sehen.
Auf unserer Seite gab es, dem Uferweg folgend, eine natürliche Bodenerhebung. Diese moche noch zusätzlich zwanzig, dreißig Zentimeter Schutz gegen das Wasser bilden. Hier, erklärte Vater, könnte man den eventuellen Damm bauen. Der müsse aber gute hundert Meter lang sein, und das wäre wirklich keine Arbeit von einer halben Stunde, wie Herr Hitzinger glaubte.
Als wir heimkamen, und ich zu Bett gehen mußte, hörte ich noch das Rauschen des Wassers bis in den Schlaf hinein.

In den nächsten Tagen geschah gar nichts. Der Wasserstand schwankte ein paar Dezimeter auf oder ab, er hielt sich jedoch beständig um die sechseinhalb Meter. Wir Jungen waren es bald überdrüssig, immer zum Fluß zu laufen und wir waren schnell wieder in die normale Sommerroutine verfallen. Auch bei den Erwachsenen war die Erregung abgeklungen und sie wandten sich ebenfalls den alltagsbetonten Neuigkeiten der Schlagzeilen diverser Zeitungen zu. Ein Grenzkonflikt oder ein Sexualmord bot logischerweise ein interessanteres Thema als ein zwar hohes, aber gleichbleibendes Wasserniveau.
Und dann, am Freitagabend, war plötzlich das Gerücht wieder da. Das Wasser steigt. Zu uns kam die Nachricht durch Frau Karanec, die von Mutter ein wenig Zucker ausleihen wollte. Ich konnte die Alte nicht leiden, seit sie vor zwei Jahren meinen Eltern verraten hatte, daß Egon und ich versuchten, eine Ratte zu zähmen. Wir hatten das Tier mit großer Mühe eingefangen und es in einen alten Blechkanister gesperrt, den wir aus der Müllgrube hervorgeholt hatten.
Als ich jetzt bemerkt hatte, daß sie zu uns kam, hatte ich mich schnell um die Ecke unserer Hütte gedrückt, sodaß ich sie nicht grüßen brauchte. Aber ich konnte nicht umhin, ihre schrille Stimme bis in mein Versteck zu hören.
"Haben Sie schon gehört, daß der Fluß wieder steigt?" Vor Aufregung, die Nachricht weitergeben zu können, keifte sie in einer noch höheren Tonlage. "Das Wasser soll schon fast auf den Uferweg überlaufen. Da werden wir vielleicht doch noch weg müssen. Gott, oh Gott, diese Unsicherheit. Mein Mann sagt, wir werden den Garten hier verkaufen und uns einen anderen suchen."
Ihre weiteren Tiraden hörte ich nicht mehr, denn ich war schon unterwegs. Ich benutzte den Fluchtweg Nummer eins, hinter dem Haus über den Zaun, was zwar verboten war, aber nichtsdestoweniger vonnöten, weil ich, hätte man mich gesehen, sicher zum Abendessen zurückgepfiffen worden wäre.
Egon saß schon bei Tisch, aber Gerhard lief mir über den Weg und kam mit zum Fluß, als ich ihm berichtet hatte, worum es ging.

Am Samstagmorgen saß ich zusammen mit Egon auf der Gleisanlage beim Sägewerk und sah dem steigenden Wasser zu. Unsere Väter arbeiteten ein Stück weiter weg an dem Damm, der das Wasser aufhalten sollte. Auch wir hatten volontiert, hatten uns aber beleidigt zurückgezogen, nach dem lakonischen Ausspruch von Herrn Hitzinger:
"Na, ihr werdet das Kraut fett machen!"
Auch hinter uns waren Leute emsig beschäftigt. Man hatte einen Kranlastwagen geholt und war dabei, riesengroße, viereckige Steinblöcke hochzuwinden und auf die Bretterstapel zu legen. Die Schienen des Industriegleises lagen auf einer Trasse, die das Sägewerk von Norden her absicherte, aber von Süden würde das Wasser zurückfließen und das ganze Holz wegschwemmen.
Der Uferweg stand schon zentimeterhoch unter Wasser. Immer wieder kräuselten kleine Wellen die Oberfläche; aber es waren Wellen, die nur in eine Richtung zogen, landeinwärts. Egon hatte kleine Stäbchen in den Boden gebohrt, und wir sahen nun gespannt zu, wie das Wasser im Laufe des Vormittags eines nach dem anderen erreichte. Es war fast unheimlich mitanzusehen, wie der Fluß sich langsam ausbreitete, fast unbemerkt immer neue Gebiete verschlang. Erst stieß eine Wasserzunge vor, gluckste begierig in eine kleine Vertiefung, die sie im Nu ausfüllte, um sie als neuen Stützpunkt im weiteren Kampf zu verwenden. Wenig später wurde ein zweites Loch im Boden Opfer des unnachgiebig vordringenden Elementes. Im dritten Anlauf schlossen sich die beiden Arme, flossen ineinander, hatten wieder ein Stück Land umkreist, das jetzt hilflos als kleine Insel den stetig anlaufenden Wellen preisgegeben war. Schließlich kapitulierte auch diese letzte Festung, und nur ein paar Grashalme ragten noch aus den Fluten.

Am späten Nachmittag desselben Tages kam fröhlichere Stimmung auf. Die Verdämmung war fertig, weitere fünfzig Zentimeter Hindernis waren errichtet worden. Das hatte man geschafft, obwohl etwa die Hälfte der Gartenbesitzer das Feld geräumt hatten und mit ihren Habseligkeiten in die Stadt geflüchtet waren. Dazu gehörten auch Ernstls, Hinkes und Gerhards Familien.
Man spottete gutmütig über die Hasenfüße, die vor ein bißchen Wasser Angst hatten. Man freute sich in dem Bewußtsein, die Gefahr gebannt zu haben, aber es war auch ein Gefühl von Selbstherrlichkeit dabei.
Am Abend gingen meine Eltern wie gewöhnlich zum Kartenspielen, und Moma begleitete mich zum Fluß. Wir hatten Taschenlampen mitgebracht, und ihr Schein zuckte hinaus in das Dunkel, wurden von den nunmehr gigantischen Massen des Stromes absorbiert, verschlungen.
In der Dunkelheit schien die Gefahr größer, das schürfende Geräusch an der Verdämmung klang lauter, das Gurgeln der Wirbelströmungen drohender.
"Hast du Angst", fragte ich Moma.
"Ein wenig schon", nickte sie. "All das hier sieht so riesig aus, so voll Gewalt. Weißt du, ich fürchte mich oft davor, daß es bei uns daheim zu brennen beginnt. Feuer ist auch schlimm, aber das kann man löschen. Das hier ist viel ärger, wir sind so machtlos."

Um vier Uhr früh am Montagmorgen wurden wir durch ein grelles Pfeifen geweckt. Draußen rief jemand:
"Das Wasser kommt! Der Damm ist gebrochen! Das Wasser kommt!" Dann erklangen wieder ein paar helle Töne aus dem Pfeifchen. "Achtung! Das Wasser kommt!"
Ich flog aus meinem Bett. Mit fliegenden, ungeschickten Fingern versuchte ich, meine Schuhe zu knüpfen. Meine Mutter sah in meine Kammer herein.
"Laß das jetzt! Nimm die Decke und die Matratze und lauf! Warte oben an der Bahntrasse auf uns!"
Ich riß meine Kamera vom Haken, packte die Schachtel mit der Korrespondenz meiner Brieffreunde, warf alles auf das Bett, rollte die Matratze zusammen, nahm sie vor die Brust und stolperte aus dem Haus. Auf dem Weg zum Ausgang sah ich, wie das Wasser, von Weigels Garten herkommend, mir entgegenschoß. Die erste Welle mochte etwa fünfzehn, zwanzig Zentimeter hoch sein. Schaum vor sich treibend raste das braune Wasser mit ungeahnter Geschwindigkeit voran.
Als ich das Gartentor öffnete, verlor ich den Griff um die Matratze. Ich bückte mich, klemmte meine Briefe unter den Arm und nahm die Decke hoch. Dann war das Wasser da. Kalt umschloß es meine Füße, riß mir die Kamera vor den Fingern weg. Panik ergriff mich. Ich ließ die Matratze liegen und lief, so schnell ich konnte. Das Wasser stieg an meinen Waden hoch, ich kam immer schlechter voran. Ich fluchte, schrie und weinte. Ich kämpfte bald bis zu den Knien in der abscheulichen, braunen Nässe, bevor ich endlich höheren Boden erreichte. Ich warf die Decke nieder und setzte mich darauf. Ich hatte Angst, Angst, Angst. Angst um meine Eltern, Angst um meine sichere Geborgenheit, die das Wasser mit sich fortriß, wie einen Strohhalm, der wehrlos in den Strudeln versank. Rings um mich liefen Leute, tragend, schleppend, keuchend. Irgendjemand rief mir zu:
"Geh doch weiter! Hierher kommt das Wasser auch noch!"
Apathisch raffte ich mich hoch, erinnerte mich der Worte meiner Mutter, ging zur Bahntrasse hinauf.
Stunden, Tage später, wie es mir schien, kamen meine Eltern, schwankend unter der Last, die sie trugen, naß bis zu den Hüften.
"Hier, das hast du vergessen." Mein Vater ließ die durchnässte Kamera vor meinen Augen baumeln. "Kopf hoch, Bub, das geht vorüber. Und die wichtigsten Dinge haben wir ja doch herausbekommen."
Jetzt erst wagte ich es, einen Blick über die Gartensiedlung zu werfen. Nur noch der obere Teil der Hütten und die Kronen der Bäume ragten aus dem schmutzligen Wasser. Bei unserem Häuschen klatschten die Wellen gerade an die Fensterscheibe meines Zimmers.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden, 1996


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