DAS VERLORENE PARADIES

MOMA


Am Samstag nach dem Gartenfest waren meine Eltern bei Wondraks, zu denen sie oft gingen, um Karten zu spielen. Ich hatte bis jetzt mit Egon Fußball gespielt, aber es war zu dunkel geworden, sodaß wir aufhören mußten. Egon hatte keine Lust gehabt, mit mir zu kommen, Hinke und Rudi waren auf Urlaub. Gerhard war auch nicht daheim, ich war mit anderen Worten mir selbst überlassen.
In unserer Hütte war es finster und schon der Gedanke daran, allein in meinem Zimmer zu sitzen, machte mich verdrossen. Das einzige, was ich tun konnte, war zu Wondraks zu gehen und beim Tarockieren zuzusehen.
Dort sah es aus wie auch sonst immer; die vier Erwachsenen saßen im Licht der Sturmlampe, die einen ziemlich hellen Schein gab, rund um den Verandatisch. Moma und Inge, ihre kleine Schwester, saßen auf Schemeln ein Stück hinter ihren Eltern und schauten gelangweilt zu, wie die Karten auf den Tisch klatschten. Mein Vater hatte gerade einen Pagat ultimo verloren und sprach wild gestikulierend mit Herrn Wondrak über die Chancen, die er gehabt hätte, hätte er nur die Herz-Dame zwei Stiche früher gespielt.
Meine Knie waren von den vielen Tormannparaden ein wenig gezeichnet, was meiner Mutter natürlich gleich auffiel, als ich näher kam.
"Ja, wie siehst denn du aus", begrüßte sie mich. "Du siehst ja aus wie ein Ferkel. Schau dir einmal deine Beine an. Marsch heim und geh dich waschen, bevor du wiederkommst."
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Jetzt hatte ich jegliches Interesse am Zusehen verloren. Aber allein zu sein, das war noch immer keine schöne Alternative. Ich sah zu Moma hinüber.
"Gehen wir spazieren", fragte ich, den Einwurf meiner Mutter überhörend. Moma nickte und stand auf. Sie wandte sich, aus strategischen Gründen vermutlich, weil hier eine Erlaubnis eher zu erwarten war, an ihren Vater.
"Papa, darf ich ein wenig spazierengehen?"
Herr Wondrak füllte gerade die Weingläser auf und brummte zustimmend.
"Wo wollt ihr denn hingehen?" Momas Mutter sah zweifelnd durch ihre dicken Brillen. Ich schüttelte den Kopf.
"Ich weiß nicht. Einfach ein wenig spazieren. Zum Fluß hinunter, vielleicht."
"Fein, da gehe ich mit!" Inge piepste vor Freude, während meine rapid sank. Ich wollte doch nicht Babysitter spielen. Inge war acht. Aber Frau Wondrak rettete uns.
"Nein, Kleine, kommt nicht in Frage. Für dich ist es schon viel zu spät. Du gehörst ins Bett."
Weinerlich protestierte Inge, während Moma und ich uns unauffällig auf den Weg machten.
"Komm nicht zu spät nach Hause, Moma", rief ihre Mutter uns nach.
"Seht zu, daß ihr nicht ins Wasser fällt!" Das war mein Vater.
"Und wasche dich vorher!" Meine Mutter.
Ich war versucht, die Tür zum Garten mit lautem Krach hinter mir zuzuwerfen, aber ich beherrschte mich.
"Puh", sagte ich, als wir außer Hörweite waren, und Moma nickte beifällig.
"Die behandeln uns wie Kleinkinder. Moma, gib acht. Moma, tu das nicht. Sei ruhig, Moma. Mach das so, Moma. Ich bin doch schon dreizehn." Wir gingen kurz bei uns daheim vorbei und ich wusch mir schnell die Hände. Die Knie hielt ich, auf einem Bein balancierend, unter die Pumpe, ohne Schuhe und Socken auszuziehen. Ich fuhr ein paarmal mit den Händen über die rot-schwarz-grünen Flecken, der Rest ging ins Handtuch. Das würde meine Mutter freuen.
Wir folgten dem Industriegleis bis zum Sägewerk und bogen dort rechts ab, dem Ufer zu. Dann gingen wir die Kaistraße entlang, in Richtung Stadt. Eigentlich war es ein Promenadeweg, denn hier fuhr kaum noch ein Auto, seit sie die neue Schnellstraße gebaut hatten.
Bei der Treppe, die gerade ins Wasser hineinführte und an der man den Wasserstand ablesen konnte, hatten wir Buben im Gebüsch ein paar Bretter zusammengenagelt, sodaß sie als Sitzbank dienen konnten. Der Schein der Straßenlampen drang kaum bis hierher, aber ich konnte sehen, daß der Fluß viel Wasser führte. Nur zwei, drei Meter vor uns plätscherten die kleinen Wellen gegen das Ufergestein.
Wir saßen still nebeneinander und hörten dem Wasser zu. Ein leises Gurgeln wurde von einem leichten Schwappen abgelöst und über all dem hörte man das kaum merkbare, sirrende Geräusch, das fließendes Wasser erzeugt. Der leichte Wind spielte raschelnd mit den Blättern um uns, und alles zusammen bildete eine träumerische Einheit.
Moma saß neben mir, mäuschenstill. Ich konnte nur die Umrisse ihres luftigen, gelben Kleidchens sehen, die sonnengebräunten Arme und Beine wurden von der Dunkelheit verschluckt. Aber ich brauchte sie nicht zu sehen, ich wußte, wie sie aussah. Ihre schwarzen Haare umrahmten ihr Gesicht in einer Pagenfrisur und machten es klein. Auch ihre Nase war klein, zu klein vielleicht, und die Nasenspitze war ein bißchen aufgebogen. Aber ihr Teint war frisch und rein, ihre Wimpern lang und ihre Augen wundervoll. Vielleicht war sie nicht hübsch, aber sie würde es zweifellos werden.
Ich war völlig entspannt, aber dennoch ein wenig verlegen, unsicher. Was sollte man mit einem Mädchen tun? Worüber sollte man sich mit ihr unterhalten? Worüber sprach man mit Mädchen? Wäre Egon oder Gerhard hier gewesen, hätte es sicher Themen genug gegeben. Aber vielleicht brauchte man gar nicht so viel zu reden - ich genoß es jedenfalls, ruhig hierzusitzen und ihre Nähe zu fühlen. Aber ich spürte auch wieder dieses neue Gefühl, für das ich kein Wort hatte. Es schien tief aus der Brust zu kommen, doch von keiner bestimmten Stelle. Es war wie ein Größerwerden, ein Sich-öffnen. Vielleicht kam das aus der Seele, wenn es eine solche gab.
Behutsam legte ich meine Hand auf ihre. So saßen wir lange, schweigend, erfüllt von der Wärme, die durch unsere Finger strahlte, dem Verbindungspunkt unserer Gemeinsamkeit. Die Zeit stand still, die Sterne über uns senkten sich herab und wir gingen auf im Universum.
Später, viel später, kam ein Schleppschiff den Fluß herauf. Erst sah man nur die Laternen, rot, grün und gelb, weit in der Ferne, wo die Stadt lag. Langsam kamen sie näher und schließlich konnten wir schemenhaft das Mutterschiff ausmachen. Eine einzige kleine Lampe leuchtete schwach aus irgendeiner Kajüte mittschiffs. Dann, als sie auf gleicher Höhe mit uns waren, sahen wir auch die zwei dunklen Schleppkähne. Und dann kamen auch schon die Wellen.
Ich half Moma aufstehen und wir gingen zurück auf den Weg, um nicht naß zu werden. Im Lampenschein sah ich wie ihre Augen, ihre wunderbaren Augen in die Unendlichkeit blickten, weit, weit fort.
Ich legte meinen Arm um sie als wir heimgingen. Beim Sägewerk begann ich endlich wieder zu sprechen.
"Du", sagte ich, und meine Stimme klang heiser, ungeübt. "Warum heißt du eigentlich Moma?"
Sie lächelte ein wenig und schüttelte den Kopf. Ich zog sie näher an mich.
"Warum", drängte ich.
"Ach, das ist so dumm", sagte sie. Ihr Lächeln wurde tiefer, vielleicht sogar ein wenig spöttisch. "So heiße ich schon seit ich ein Baby war. Ich konnte noch nicht Monika sagen, nur Moma." Verlegen lachte sie auf.
"Weißt du", ich sah sie von der Seite her an. "Weißt du, du könntest gar keinen schöneren Namen haben als Moma."
Als wir bei unserem Haus vorbeikamen brannte Licht im Zimmer meiner Eltern. Die Kartenpartie war also schon zu Ende. Ich begleitete Moma bis zu ihrem Garten. Es war auch in der Gartenanlage dunkel, aber anders als beim Fluß. Es war heimischer, die Finsternis durchbrochen von einzelnen erhellten Fenstern, die durch das Blattwerk der Obstbäume schimmerten.
An der letzten Ecke blieben wir stehen. Unsicher stand ich da. Wir sahen einander an, lange.
"Gute Nacht", flüsterte ich schließlich.
"Feigling", sagte sie zärtlich.
Da küßte ich sie.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås, Schweden, 1996


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